Das himmlische Fräulein

Ein Seufzer

von Victor Auburtin
Das himmlische Fräulein

Das Coupé der Vorortbahn ist voll besetzt, und einige Passagiere müssen stehen.
Auf der einen Bank sitzen nebeneinander ein Herr von fünfzig Jahren und ein Herr von zwanzig Jahren.
Der Herr von fünfzig Jahren hat einen Bauch und seelenvolle Augen. Was den Herrn von zwanzig Jahren anbetrifft, so ist er bekleidet mit einer Hornbrille, einem gelbseidenen Schlips und einem Spazierstock, an dem sich ein silberner Griff befindet.
An der Haltestelle betritt das himmlische Fräulein den Wagen und muß stehenbleiben.

Der Herr von zwanzig Jahren  betrachtet das stehende himmlische Fräulein wohlgefällig von oben bis unten, und es fällt ihm nicht im Schlaf ein, ihr Platz zu machen. Der Herr von fünfzig Jahren springt auf und sagt errötend: Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten? Das himmlische Fräulein lächelt himmlisch und setzt sich auf den Platz neben den Herrn von zwanzig Jahren.
Wie himmlisch sie mich angelächelt hat, denkt im Stehen der Herr von fünfzig Jahren. Ich werde sie nachher ansprechen und in ein Kino führen, denn es ist ja Frühling. Wieviel Geld habe ich eigentlich bei mir?
Der Herr von zwanzig Jahren und das himmlische Fräulein sitzen jetzt nebeneinander. Und es ist sehr eng, man stößt sich und man sagt "Pardon", und man lacht.

An der Endstation verlassen der Herr von zwanzig Jahren und das himmlische Fräulein heiter plaudernd den Bahnhof und gehen zusammen die Frühlingsstraße entlang, die von blühenden Rotdornbäumen eingesäumt ist.
Der Herr von fünfzig Jahren, der von Stehen müde geworden ist, blickt ihnen nach. Dann geht er in die Konditorei und bestellt sich eine Apfelsinentorte.
Nach reiflicher Überlegung kommt er zu dem Schluß, daß es so besser ist.
Denn erstens ist eine Apfelsinentorte billiger als ein himmlisches Fräulein.
Zweitens ist eine Apfelsinentorte weniger anstrengend.
Drittens weiß man bei einer Apfelsinentorte wenigstens, woran man ist.


Victor Auburtin