Samstagmorgen

mit glücklicher Verkäuferin

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Samstagmorgen

mit glücklicher Verkäuferin


Zunächst ist alles grau und diesig. Schließlich haben wir ja auch Dezember. Ich parke etwas entfernt von der Bäckerei und gehe durch die menschenleere Straße der Siedlung. Ich kenne viele solcher Augenblicke, und am deutlichsten stehen die vor mir, die ich in der Städten des ehemaligen Ostblocks erlebt habe – Zagreb, Bukarest, Sarajewo, überall dort, wo nicht genügend flinke, wache, phantasievolle, geldhungrige Händler etwas zu sagen hatten. Diese Welt wirkte wie gelähmt.
 
Aber auch uns steht eine ärmere Zeit bevor, und ich versetze mich jetzt in einige Menschen, die an solch einem Morgen das Haus verlassen und mit einigen verbliebenen Münzen in der Hand zu ihrer Bäckerei gehen. So kann es kommen. Ein Leben ohne sogenannte Perspektive: Wir waren sie lange gewöhnt, diese Perspektiven. Jetzt fehlen sie, und eigentlich müßten wir das Leben wegwerfen, das uns keine Angebote mehr macht.
Aber das tun wir nicht. Es gibt noch ein Leben jenseits glitzernder Hoffnungen, das ist sich selbst genug, wenn es nur leben darf. Und ein paar Hoffnungen tauchen bei jedem auf, und sei es nur die, am Abend den Kopf im Kissen vergraben zu dürfen. Wir sind Narren der Hoffnung.
 
Jetzt bin ich in meiner Bäckerei am Dreieckstisch. Kaum habe ich mich in die Zeitung vertieft, kommt schon der bekannte, lärmende, aber gutmütige Alte herein. Gleich will er von mir wissen, was ich von dem künftigen Sonderbeitrag zur Krankenversicherung halte. Ich frage ihn, was er gewählt hat (wir hatten gerade Bundestagswahl) und er sagt stolz: „Die Linke“. Dann darf er dagegen sein.
Er beanstandet auch, daß Entschädigungen an die Opfer des deutschen Luftangriffs bei Kundus bezahlt werden, weder Engländer noch Amerikaner täten so was - da gibt es Hilferufe der älteren Bäckerin. Das beendet die Diskussion.
 
Die Bäckerin jammert, die  Ersatzrolle gehe nicht in die Halterung der Kasse hinein. Ich versuche ihr zu helfen, aber ihre Finger schlängeln sich andauernd dazwischen, während ich werkele. Ich gebe auf. Zwei andere Neuangekommene scheitern auch an der Aufgabe.
Dann kommt ein schlanker Grauhaariger – „der war Prokurist“, sagt mein Nebenmann leise -, der es auch vergeblich versucht. Ich mache hämische Bemerkungen über seine technische Begabung, aber, als ich einmal zwei Minuten in die Zeitung geschaut Habe; ist es tatsächlich gelungen. Der Prokurist hat entdeckt, daß es eine falsche Rolle war.
 
Zur Entspannung bin ich hier nicht gekommen. Ich fahre zu meinem nächsten Ziel, dem Schwimmbad. Hier ist heute von den Duschen zu berichten, die jetzt von älteren Männern, deren Badehosen an den Knien hängen, bevölkert sind. Es sind weit hervor vorquellende Bäuche zu sehen, ein schlauchartiger Nabel mit vorausgegangener Nabelbruch-Operation. Ein schöner Anblick ist das nicht. Ich murmele etwas von Schönheitskonkurrenz, das hoffentlich keiner gehört hat. Den ganzen Vormittag plagt mich mein schlechtes Gewissen: Wenn mich einer von diesen hilflosen, alten Männern gehört hätte!
 
Es gibt dann aber auch eine Art Strafe für meinen Übermut. Kurz danach, beim Ausparken auf dem Parkplatz der Supermarktes –vielleicht hat mich da gerade die Reue geplagt, spüre ich bei Zurückfahren Widerstand. Natürlich stoppe ich, drehe mich um und sehe, daß da ein Wagen gewartet hat.
Schicksalsbereit steige ich aus, schließlich geschieht es mir recht. Ein großer Kerl steigt aus seinem Ford, aber er scheint genau so gleichmütig wie ich zu sein. Ich glaube an seiner Sprache zu hören, daß er Ausländer ist. Wir beäugen die Flanke seines Autos und finden – nichts. Wir sind beide erleichtert. Anscheinend läßt mich der Himmel heute doch nicht fallen. Der Große fährt weiter.
 
Beschwingt gehe ich noch einmal zurück in den Supermarkt. Mir ist eingefallen, daß ich vergessen hatte, Obst zu kaufen. Die blonde Verkäuferin sehe ich schon seit Jahrzehnten hier. Auf meine Frage, wie lange sie schon hier sei, sagt sie, es seien fast dreißig Jahre. „Unglaublich“, sage ich. „Dabei sehen Sie aus wie fünfundzwanzig.“
Einen Menschen wenigstens habe ich heute glücklich gemacht. Ich kann es ihr ansehen.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker