Weihrauch und Möhre

Eine Weihnachtserzählung

von Erwin Grosche

Foto © Manuela Krause / Pixelio
Weihrauch und Möhre


Der Esel stand hinter der Krippe und war glücklich.
„Nee, nee, nee. Was bin ich glücklich“, sagte er. Neben ihm stand der Ochse und schüttelte den Kopf. „Glücklich“, sagte er. „Wieso bist du glücklich?“ Der Esel lachte: „Zuerst besucht mich dieses Pärchen mit dem Baby, dann kommt für mich ein Engel vorbei, plötzlich lassen sich alle diese Schafhirten sehen und zum Schluß kommen noch drei Könige und bringen mir Weihrauch, Dingsbums und Möhre.“
„Myrrhe“, sagte der Ochse. „Sie brachten Myrrhe.“ „Ja ja“, sagte der Esel. „Auf jeden Fall was zum Essen.“ Der Ochse schüttelte den Kopf. „Und Gold“, sagte er. „Sie brachten keinen Dingsbums, sondern Weihrauch, Myrrhe und Gold.“ Der Esel verdrehte die Augen. „Ist doch egal“, sagte der Esel. „Ich wußte nur nicht, daß ich so was Besonderes bin.“
 
Der Ochse schaute den Esel an. „Wieso sollst du was Besonderes sein?“, fragte er.
Der Esel stöhnte auf. „Weswegen haben sich denn sonst alle auf den Weg zu diesem Stall gemacht“, sagte er. „Bist du sicher, daß alle wegen dir gekommen sind?“, fragte der Ochse. Der Esel lachte. „Natürlich“, sagte er. „Wegen wem denn sonst? Hier ist doch sonst niemand, wegen dem es sich zu kommen lohnt.“ „Doch“, sagte der Ochse. Der Esel schaute sich um, sah den Mann, die Frau, das Baby, das in der Krippe lag und schüttelte den Kopf. „Was soll denn hier noch Besonderes sein?“, fragte er. „Und was ist mit mir?“, sagte der Ochse. „Ein Ochse ist auch was Besonderes.“ Der Esel verdrehte die Augen. „Ein Ochse soll was Besonderes sein“, sagte er. „Da lachen ja die Hühner. Ein Ochse ist nur ein Ochse. Was tust du denn schon Besonderes, daß alle zu dir aufblicken müßten?“ Der Ochse dachte nach und stampfte mit den Hufen auf. „Okay“, sagte er. „Vielleicht ist ein Ochse nichts Besonderes, aber was unterscheidet mich von einem Esel?“ Der Esel schaute sich um. Er sah zu der Frau und dem Mann, die vor der Krippe knieten und auf das Baby schauten. Das Baby schlief und nuckelte an seinem Daumen. „Ich kann IA machen“, flüsterte der Esel. „Mein IA bringt das Baby zum Lachen und deswegen bin ich was Besonderes.“ Der Ochse schüttelte wieder den Kopf. „Träum weiter, Esel“, sagte er dann. „Träum weiter.“ Dann schwiegen der Esel und der Ochse und ließen das kleine Baby, das direkt vor ihnen in der Krippe lag, in Ruhe schlafen.


© 2009 Erwin Grosche