Horch doch mal am Umzugskarton!

Ein Bücher-Märchen

von Dorothea Renckhoff

Foto © Frank Becker
Horch doch mal
am Umzugskarton!



Das Heft, das keine Stimme hatte
 
‚Passen Sie doch auf!’ rief das Telefonbuch, als der Bildband ihm auf den Deckel fiel. ‚Sie sehen doch, daß ich keinen festen Einband habe!’
Es wurde jetzt ziemlich voll im Umzugskarton. Unten drin langweilten sich schon seit Stunden eine Wolldecke und ein paar dicke Sofakissen miteinander, und jetzt hatte man noch ein paar Bücher oben drauf gepackt, unsortiert, wie es grade kam. Bücher, die ständig benutzt wurden - darum landeten sie zuletzt in der Kiste – und andere, die beim Ausräumen der Wohnung aus irgendwelchen verstaubten Winkeln ans Licht gekommen waren.
 
Der Bildband gab dem Telefonbuch keine Antwort; er war sehr vornehm, aber ebenso schweigsam: in seinem Innern waren viele berühmte Gemälde abgedruckt, aber wenig Text. Das Telefonbuch schimpfte hastig weiter vor sich hin; es sprach immer ganz schnell und leise, weil es so furchtbar viele winzig klein gedruckte Zeilen enthielt. Aber weil es so dick war, geriet es dabei leicht außer Atem und mußte husten. Plötzlich fing das Liederalbum neben ihm an zu singen. ‚Was soll das jetzt wieder!’ empörte sich das Telefonbuch. ‚Ein Gesang geht auf uns nieder!’ quiekte ein kleiner Band mit abgewetztem hellblauem Leinendeckel, ‚hört, das ist ein Seifensieder!’ ‚Ach lassen Sie doch den Quatsch!’ schalt das Telefonbuch. ‚Sonst machen Sie wohl Patsch, und ich flieg in den Matsch?’ kicherte das kleine Buch.
‚Wie herrlich, wieder unter Seinesgleichen zu sein!’ jubelte jetzt jemand von der anderen Seite. Dort lag ein ramponiertes Kochbuch mit abwaschbarem Umschlag. Seit Jahren hatte es mit keiner Seele reden können, weil es ganz allein auf einem Regal in der Küche gestanden hatte, neben den Kaffeebechern, und die redeten in einer anderen Sprache, wenn sie überhaupt ein Wort aus ihren sauber gespülten Mündern brachten. Jetzt verlor das Kochbuch beinah die Seiten vor Freude darüber, daß es endlich seiner Einsamkeit entronnen war. ‚Sollten wir uns nicht miteinander bekannt machen, wenn wir schon zusammen verreisen?’ fragte es und klappte höflich den Deckel auf, sodaß man seine erste Seite sah, und auf der stand gar nichts, da waren nur ein paar eingetrocknete Spritzer Tomatensauce. Aber das ist eben die Art, wie Bücher sich untereinander begrüßen – so eine Mischung aus Winken und Verbeugung.
 
Ein schmuddeliges Taschenbuch mit einem Segelschiff als Umschlagbild erwiderte den Gruß, und dann stellten die beiden sich in aller Form vor, indem sie das leere Vorsatzblatt umwendeten und die nächste Seite mit ihrem Titel zeigten, und dazu nannten sie ihren Namen. ‚Kochen für jeden Tag,’ sagte das Kochbuch, und ‚Schatzinsel’ antwortete das schmuddelige Taschenbuch. ‚Insel?’ piepste das kleine Blaue dazwischen, ‚wo hab ich meinen Pinsel?’
Plötzlich schwirrte der Karton von Stimmen und Namen. ‚Robinson Crusoe!’ – ‚Nils Holgersson!’ – ‚Gifte und Vergiftungen!’ klang es durcheinander, und das Liederalbum sang dazu mit schallender Stimme. Die Sofakissen hörten neidisch zu, denn sie konnten weder singen noch sprechen.
‚Andersen-Märchen’, sagte ein heller Band. Auf seinem Deckel schlief ein kleines Mädchen in einer Nußschale unter einem Rosenblatt. ‚Dich kenn ich ein paar Jährchen,’ kicherte das kleine Blaue. Es war auf dem Rücken mit braunem Klebeband geflickt, aber dennoch gut gelaunt. ‚Ich bin das Reimlexikon,’ fügte es hinzu, ‚ich war noch nie im Stadion!’ ‚Reimlexikon?’ fragte das Telefonbuch, ‚was soll das denn sein?’ – ‚Schau doch mal in mich hinein,’ jauchzte das Reimlexikon, ‚schreibst du jemals ein Gedicht, und du weißt die Reime nicht, dann schlag einfach in mir nach – Reime weiß ich tausendfach! Flinker – Trinker – linker – Stinker…’
 
Doch da hörte man plötzlich jemand weinen. Ganz leise, als weinte da jemand, der eigentlich gar keine Stimme hatte. Und doch mußte sein Kummer so groß sein, daß alle Bücher dieses Weinen hören konnten. Sogar das Reimlexikon verstummte und lauschte. Und dann sahen sie es. Das Weinen kam aus einem leeren Heft, das raschelte mit den unbeschriebenen Seiten, und fast klang es wie ein Flüstern. Aber es konnte nichts sagen, denn es war ja leer. Und dann klappte es ganz weit auseinander, wie ein Mensch, der die Arme ausbreitet, wenn er jemanden kommen sieht, den er sehr lieb hat und der lange fort war. Man konnte es ganz deutlich erkennen, das Heft hatte Sehnsucht. Und die Bücher hörten das Weinen im Rascheln der leeren Seiten, und ein ganz leises, fast tonloses Flüstern: ’Ich will auch eine Stimme haben und sprechen wie ihr!’
Es wurde still in der Kiste. Nur das Reimlexikon suchte leise murmelnd nach einem Reim auf Stimme, und das Liederalbum summte etwas Beruhigendes, aber das war nur ein Zeichen dafür, daß keiner einen Rat wußte. Aber alle dachten verzweifelt nach. Sogar der schweigsame Bildband suchte nach einem Trost: ‚Es ist gar nicht schlimm, wenn man nicht sprechen kann,’ erklärte er, ‚es wird sowieso viel zuviel Unsinn geredet,’ und alle stellten erstaunt fest, was für eine wunderschöne tiefe Stimme er hatte. Aber das Heft raschelte immer bitterlicher, sogar sein Umschlag find an zu zittern.
 
Plötzlich klappte das Märchenbuch sich auf und zeigte ein Bild von einem Mädchen mitten im Meer. ‚Es gibt einen Weg;’ sagte es zu dem Heft, ‚du kannst eine Stimme bekommen,’ und das Heft hörte auf zu rascheln und lauschte gespannt. ‚Du kannst eine Stimme bekommen,’ wiederholte das Märchenbuch. ‚Wenn ein Mensch dein Freund wird und mit einem Stift oder mit Tinte in dich hineinschreibt, oder Bilder auf deine Seiten zeichnet, dann bekommst auch du eine Stimme, dann kannst du sprechen wie wir.’
Und jetzt redeten alle durcheinander, denn jeder wollte einen Vorschlag machen, wie das Heft am besten einen menschlichen Freund bekommen könnte. Das Kochbuch wollte es mit in die Küche nehmen, ‚vielleicht kriegst du ein paar Fettflecke, aber sie schreiben bestimmt Rezepte in dich rein!’ rief es aufgeregt. Das Reimlexikon kannte einen Herrn, der immer Gedichte auf gebrauchte Papierservietten schrieb, der würde sich bestimmt über ein schönes Heft freuen. Jeder hatte eine bessere Idee, und schließlich legte das Märchenbuch das Heft auf eines der Sofakissen und strich ihm noch mal mit der Umschlagklappe über den Rücken, und das Heft zuckte nur noch kurz mit den Seiten, als müßte es ein letztes Mal aufschluchzen, und dann schlief es getröstet ein, denn es war vom vielen Weinen furchtbar müde geworden.
Die Bücher aber unterhielten sich nur noch mit gedämpfter Stimme, um das Heft nicht zu wecken.
 
Freunde wirft man nicht zum Altpapier
 
‚Wie lange müssen wir denn jetzt hier drin sitzen?’ fragte der dicke Wälzer, der sich als Nils Holgersson vorgestellt hatte, ‚man kriegt ja kaum Luft in diesem Karton!’
‚Ja,’ sagte jemand aus der Ecke der Kiste, ‚du bist mit den Wildgänsen gereist, vielleicht leidest du in dieser Enge fast so sehr wie ich.’
Alle reckten sich, um zu sehen, wer da sprach. Es war eine große alte Weltgeschichte mit wunderbar verziertem Einband. Bis jetzt hatte sie still für sich auf einem eigenen Kissen gelegen, und man merkte sofort, daß sie sehr vornehm sein mußte, denn die Ränder ihrer Seiten waren vergoldet. Darum duzte sie auch alle anderen Bücher, ohne um Erlaubnis zu fragen. ‚Ich bin nämlich an einen Ehrenplatz im Schrank gewöhnt,  ganz für mich allein,’ erklärte sie, und dann erhob sie sich und zeigte die goldenen Blumenranken auf ihrem schönen Rücken. Die Bücher waren sehr beeindruckt. Nur das Telefonbuch lachte in sich hinein, denn es hatte als einziges den vorderen Deckel der Weltgeschichte gesehen, wo ein häßlicher dunkler Ring von einem feuchten Glas auf dem feinen Leder zurückgeblieben war.
‚Ich hätte wohl auch beim Umzug Anspruch auf  bevorzugte Unterbringung,’ fuhr die Weltgeschichte fort, ‚aber es hat keinen Sinn, sich deswegen aufzuregen, das wirbelt nur den Staub auf. Morgen ist es geschafft, und jeder kommt an den Platz, wo er hingehö….’
 
Doch da flog ihr mit lautem Klatschen etwas auf den Rücken. Es war ein Computer-Lehrbuch, das gellend schrie. Man konnte es kaum verstehen, es klang wie ‚Wiiiiill niiiicht’ - - und ‚Papiiiiiiiier’ - -, und dabei zuckte es vor Angst und flatterte mit allen Seiten. ‚Es will nicht in den Papier-Container,’ übersetzte ein kleines Wörterbuch, denn zum Übersetzen war es ja gemacht. – ‚Ich hab Aaaaangst!’ heulte das Computer-Lehrbuch, ‚meine ganze Familie ist im Papier-Container gelandet, und jetzt bin ich dran! Es ist ein schrecklicher Tod, man wird mit dem Lastwagen abgeholt und zerrissen und zerfetzt!’ Und dann blieb ihm vor Angst die Stimme weg.
‚Papier-Container?’ fragte das Kochbuch mitleidig, ‚aber das ist ja furchtbar! Habt ihr das gehört?’ wandte es sich an die andern, aber die gaben keine Antwort, einige rückten sogar ein bißchen von dem Computer-Buch ab, als hätte es eine ansteckende Krankheit. Nur die Schatzinsel sah sich um und überlegte, ‚können Sie sich nicht irgendwo verstecken?’ schlug sie vor, ‚vielleicht unter den Sofakissen?’
‚Versteck dich bei den Sofakissen,’ alberte das Reimlexikon, ‚sonst wirst du morgen früh zerrissen! Darauf weiß ich noch einen Reim,’ fügte es hinzu und lachte über seinen eigenen Witz, ‚aber den kann ich in so vornehmer Gesellschaft nicht benutzen,’ und es schielte zu der Weltgeschichte hinüber, die sich gerade angeekelt unter dem Computer-Lehrbuch wegzuwälzen suchte. Aber das fand gerade seine Stimme wieder: ‚Ja, habt ihr denn alle keine Ahnung, was los ist?’ fragte es ungläubig. ‚Meint ihr, ich bin als einziger fürs Altpapier bestimmt? Die ganze Kiste hier wird morgen zum Container gebracht! Die andern Bücherkartons sind alle längst fort; die Wohnung ist leer; wir sind mit dem Müll zurückgeblieben, mit uns ist es aus!’
Niemand sagte etwas. Plötzlich schien es eisig kalt im Karton zu sein. Alle starrten einander in panischem Entsetzen an.
 
‚Ich dachte, wir ziehen bloß um,’ flüsterte das Liederalbum. ‚Ich hab ja befürchtet, daß es eine lange, unbequeme Reise wird…’ nickte das Wörterbuch. ‚Oder daß man einen schlechteren Platz im Schrank bekommt,’ ergänzte der Bildband. – ‚Aber zum Altpapier??’ Dem Liederalbum war die Lust zum Singen vergangen.
‚Was machen wir denn jetzt?’ fragte das Kochbuch verzweifelt. ‚Das können wir uns doch nicht so einfach gefallen lassen!’ – ‚Was sollen wir denn machen!’ antwortete die Schatzinsel resigniert, ‚es sind schon hübschere Bücher als ich in den Container gewandert,’ und sie zeigte betrübt ihren schmuddeligen Einband. – ‚Das mag ja für dich gelten,’ bemerkte die Weltgeschichte verärgert, ‚aber seht mich doch an, Lederband, Goldschnitt, so was wirft man doch nicht weg!’
‚Die Leute werfen heutzutage noch ganz andere Sachen weg,’ widersprach das Kochbuch, ‚ganze Braten habe ich schon in den Mülleimer wandern sehen, nicht nur alte Schwarten wie Sie!’ Die Weltgeschichte sah sich empört um, aber niemand sagte etwas; die Todesgefahr machte die vornehme Vergoldung plötzlich wertlos. Nur der Bildband mischte sich ein, ‚keinen Streit!’ kommandierte er streng, ‚wir müssen überlegen, wie wir uns wehren können.’
‚Eins und zwei und drei und vier,’ quiekte das Reimlexikon, ‚wir wollen nicht ins Altpapier!’
‚Das hilft nichts,’ sagte das Telefonbuch düster, ‚meine Eltern und meine Großeltern sind auch dort gelandet, dagegen kann man nichts machen, die Menschen sind stärker. Ich dachte ja, ich hätte noch ein paar Monate zu leben…’ und eine dicke Träne quoll aus seinem gelben Deckel. – ‚Nun wein doch nicht!’ rief Nils Holgersson, und seine Stimme zitterte.
Nur das Märchenbuch mit dem kleinen Mädchen in der Nußschale auf dem Einband war zuversichtlich geblieben. ‚Ich glaube das nicht,’ sagte es, ‚der Professor liebt uns mehr als alles andere auf der Welt, ich kenne ihn seit seiner Kinderzeit. Der hat noch nie im Leben ein Buch weggeworfen, das weiß ich genau!’
‚Dann fängt er vielleicht heute damit an,’ murrte das Liederalbum finster. – ‚Der hat ja auch als kleiner Junge sein Limonadenglas auf mir abgestellt,’ petzte die Weltgeschichte, ‚seht euch den häßlichen Ring an! Wer so was tut, dem ist alles zuzutrauen!’ und die vergoldeten Kanten ihrer Seiten bebten vor Entrüstung.
‚Aber da war er ja noch klein,’ begütigte das Märchenbuch, ‚das würde er doch heute nicht mehr tun. Nein, nein, er läßt uns nicht im Stich!’ – ‚Was macht dich da so sicher?’ fragte das Kochbuch mit einem kleinen bißchen Hoffnung in der Stimme. ‚Wir waren Freunde,’ antwortete das Märchenbuch und nickte zuversichtlich mit dem Deckel, und das kleine Mädchen in der Nußschale nickte unter seinem Rosenblatt mit.
‚Und deshalb meinen Sie, uns passiert nichts?’ fragte das Computer-Lehrbuch zweifelnd. ‚Ja!’ rief das Märchenbuch, ‚Freunde wirft man doch nicht zum Altpapier!’ – ‚Glaubst du!’ lachte die Weltgeschichte höhnisch.
‚Ja!’ sagte das Märchenbuch sehr bestimmt, ‚man muß seinen Freunden auch vertrauen!’ und dann hörte man die Stimme des Professors. ‚Diese Kiste schaffe ich später selber hinüber,’ sagte er, ‚es war mir zu riskant, sie den Möbelpackern zu überlassen, sie enthält meine wichtigsten und meine liebsten Bücher, davon darf keines verloren gehen!’
Die Bücher sahen einander stumm an. Erst ganz langsam begann die Angst sich zu lösen. Doch dann fing sogar die Weltgeschichte an zu lächeln. Aber das Märchenbuch seufzte so tief, als bräche die Nußschale auf seinem Deckel in Stücke, und das Rosenblatt wehte fort.
 
 
 
© Dorothea Renckhoff – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker