Il Corsaro

Schweizerische Erstaufführung einer Rarität von Giuseppe Verdi in Zürich

von Wolfgang Dunkel
Il Corsaro
Spektakuläre Schweizerische Erstaufführung einer Rarität von Giuseppe Verdi
 
Opernhaus Zürich, 22. November 2009
 

Dirigent:
Eivind Gullberg Jensen – Inszenierung: Damiano Michieletto – Bühnenbild: Paolo Fantin - Kostüme: Carla Teti - Lichtgestaltung: Martin Gebhardt - Choreinstudierung: Jürg Hämmerli – Orchester: Orchester der Oper Zürich - Chor: Chor der Oper Zürich - Fotos: Suzanne Schwiertz
Mit: Carmen Giannattasio (Gulnara), Elena Mosuc (Medora); Vittorio Grigolo (Corrado), Giuseppe Scorsin (Giovanni), Juan Pons (Seid), Michael Laurenz Müller (Eunuco), Pablo Ricardo Bemsch (un schiavo), Shinya Kitajima (Selimo)
 

Eindrückliche zwei Stunden

Der Premierenabend war kurz aber eindrücklich. Durch eine reine Spielzeit von nur eineinhalb
 
Foto © Suzanne Schwiertz
Stunden und einer halben Stunde Pause stand bereits nach zwei Stunden fest: Nach seinem Lucia-Flop im letzten Jahr ist dem Regisseur Damiano Michieletto und seinem Team mit diesem Corsaro eine wunderschöne und spektakuläre Inszenierung gelungen, die einer Schweizer Erstaufführung würdig ist.
Das 1848 zur Zeit der europaweiten Revolutionen und der italienischen Unabhängigkeits- und Einigungsbestrebungen in Triest uraufgeführte dreiaktige „Melodramma tragico“ handelt vom tragischen Schicksal von Corrado, einem Anführer von Piraten (die man im Mittelmeer als Korsaren bezeichnete). Mit Hilfe der Sklavin Gulnara entgeht er dem vom Sultan Seid verhängten Todesurteil. Das unausweichliche Schicksal trifft ihn aber mit dem Tod seiner Geliebten Medora, und Corrado stürzt sich ins Meer.
 
Byron - Verdi

Verdis Librettist, Francesco Maria Piave, basierte die Oper auf der italienischen Übersetzung von Lord Byrons Verserzählung „The corsair. A tale“ von 1814, die zugleich Byrons autobiografischste ist. Im Interview ist zu lesen, daß Regisseur Michieletto  - offensichtlich inspiriert durch Byrons Verserzählung - zwei Aspekte mit seiner Inszenierung beleuchten will: Die Verdeutlichung des Konflikts zwischen Corrado und der Gesellschaft und die Frage, was es bedeutet, Korsar zu sein.
Die Antwort finden Michieletto in dem Zeit seines Lebens skandalumwitterten Byron selbst, der sich als Gesellschaftsrevolutionär stark mit seinem Korsaren identifizierte. Michieletto ging allerdings nicht so weit, die Oper als reine Autobiographie Byrons zu inszenieren, sondern verbreitete den Mythos Byron als Stimmung, etwa im ersten Bild, als Corrado als rastloser Poet auf seinem Schreibtisch im Meer schwimmt oder durch Giovanni, Corrados Kompagnon, der bei seinen Auftritten in der Gestalt  Byrons die Verserzählung wie ein Drehbuch an der Bühnenrampe mitzulesen scheint.
Byrons Konflikt mit der Gesellschaft wird vor allem im 2. Akt verdeutlicht, nachdem Corrado seine Geliebte Medora verlassen hat, um die Auseinandersetzung mit Seid und seinem Gefolge zu provozieren, die die neue Schicht von sehr reich gewordenen Unternehmern und Bankiers während der ersten Industrialisierung anfangs des 19. Jahrhunderts repräsentieren und gegen die der einsame Nonkonformist Byron mit Skandalen verschiedenster Art rebellierte.

Unendlichkeit des Meeres

Szenisch werden der autobiografischen Aspekt, der Konflikt mit der Gesellschaft und letztlich die

Foto © Suzanne Schwiertz
Einsamkeit der Protagonisten wirkungsvoll aufgegriffen: Bühnenbildner Paolo Fantin entwarf ein Einheitsbühnenbild, in dem sich die Protagonisten in allen Dimensionen im wahrsten Sinne des Wortes widerspiegelten: Die gesamte Bühne ist wadenhoch mit Wasser geflutet, so daß das Meer als zentrales Element der Inszenierung augenfällig wird. Die Seitenwände sind komplett verspiegelt, ebenso die Decke, die nach hinten schräg bis runter zur Wasserfläche geneigt ist. Außer am Anfang und Ende der Oper dient ein quer über die Bühne verlaufender roter Steg als einzig stabile Aktionsfläche. Ansonsten irren die Personen einsam in der rettungslosen (bühnenbegrenzten) Unendlichkeit des Meeres.
Zusammen mit der ästhetischen und einfallsreichen Lichtgestaltung von Martin Gebhardt ergeben sich vor allem am Anfang sehr eindrückliche und spektakuläre Bilder. Die in Farben und Materialien unterschiedlichen Kostüme (rot, lila, schwarz. Stoff, Latex) von Carla Teti gaben auffälligen Kontrast.
 
Sängerfreundliches Dirigat

Der norwegische Dirigent, Eivind Gullberg Jensen, liefert nach einem vor vielen Jahren in Costanza (Rumänien) dirigierten Rigoletto mit seiner zweiten Verdi-Operngesamteinspielung eine sehr gute Leistung ab. Die Ouvertüre gelingt ihm und dem sehr guten Züricher Opernorchester nach Startschwierigkeiten in den Streichern lyrisch, rhythmisch und schmissig. Der neue Chefdirigent der NDR-Radiophilharmonie Hannover zeigte dann auch, wie angenehm sängerfreundlich ein Dirigat gestaltet werden kann. Gullberg Jensen ging bei den Tempi auf die Sänger ein und nahm das Orchester oft zurück, so daß die Stimmen auch bei den Pianostellen nie Gefahr liefen, zugedeckt zu werden. Insgesamt war es eine eher lyrische Herangehensweise, die gut mit der Inszenierungsidee harmonierte. Einzig die Akzentuierungen in den Pianostellen könnten deutlicher und Crescendi noch stärker sein, ansonsten gelangen die vielen schwungvollen Effekte des jungen Verdi.
Die Anfangsnervosität dieser wichtigen Premiere war dem öfter Mißklänge produzierendem Orchester und den Bühnenpersonen, die zudem alle ihre Rollendebüts durchliefen, zu Beginn jeweils unterschiedlich anzumerken: Tempo-Unstimmigkeiten und Forcieren (Grigolo), Schleppen (Scorsin), kürzerer Atem (Mosuc), weniger Stimmbrillanz (Giannattasio), starkes Vibrato (Pons). Dies legte sich allerdings sehr rasch bei allen Beteiligten. Das Bühnenbild erwies sich als sehr vorteilhaft für die Stimmen, da die  geneigte Spiegeldecke die Stimmen wie ein Trichter verstärkten.
 
Großartig: Vittorio Grigolo und Carmen Giannattasio

Der Protagonist, Vittorio Grigolo, hat als Corrado (Corsar) mit seiner wunderschönen und durch die in

Foto © Suzanne Schwiertz
diesem Bühnenbild sehr kraftvoll erscheinende Stimme mit hellem Timbre eine sensationelle Leistung abgeliefert. Auch das übertriebene Schauspiel des letzten Jahres ist einer natürlichen und ausdruckstarken Rollengestaltung gewichen. Eine Augen- und Ohrenweide! Entsprechend selbstbewußt trat er vor den Vorhang und warf eine der zuvor vom Chor ins Wasser gestreuten Blumen ins Premierenpublikum. Die Neuentdeckung des Abends war die Gulnara der jungen Italienerin Carmen Giannattasio. Die Interpretation der schauspielerisch dankbaren und schwierig zu singende Rolle gelang ihr sehr überzeugend. Die Operalia Gewinnerin des Jahres 2002 beeindruckte mit ihrem wunderschönen und voluminösen Sopran, der sich bei Verdi ganz besonders wohl zu fühlen scheint.
Der im Oktober in Barcelona mit der Goldmedaille des Liceo ausgezeichnete Juan Pons in der Rolle des Seid war leider der musikalische Schwachpunkt an diesem Abend. Darstellerisch noch immer die Szene beherrschend, ist seine obere Lage dünn geworden. Wie schon im April, kurz nach seiner Bypass-Operation, in der Traviata an der Seite Netrebkos, als er nach der ersten Vorstellung ersetzt werden mußte, hatte man auch hier den Eindruck, er würde sich durch die anspruchsvolle Partie quälen und die Stimme in den höheren Lagen Gefahr laufen, wegzubrechen. Pons nahm die Stimme zwar rechtzeitig zurück und konnte mit einer guten Einteilung seiner  geringen Kondition am Schluß noch ein energisches „Tremate“ seiner Gulnara entgegenschleudern, aber es bleibt ihm zu wünschen, daß er die Folgevorstellungen, sowie die danach angesetzten Nabucco und Trovatore gut durchsteht. Mit einer verhalten innigen Darstellung und brillanter Tongebung bestach Elena Mosuc in der relativ kurzen aber schwierigen Rolle der Medora, Corrados Geliebter. Sie sang ihre „Auftritts“arie im Liegen, in einem Bett, das neben Corrados Schreibtisch im Wasser schwamm. Man hielt den Atem an, ob Bett und Schreibtisch kollidieren, sich verhaken oder die ferngesteuerten Motorantriebe versagen würden. Giuseppe Scorsin als Giovanni, Corrados Kompagnon, hatte leider nur wenig Gelegenheit, seine schöne aber vibratostarke Baßstimme erklingen zu lassen.
 
Nebenrollen gut besetzt

Foto © Suzanne Schwiertz
Die Nebenrollen waren durch Mitglieder des Internationalen Opernstudios sehr gut besetzt: Shinya Kitajima als Selimo und Pablo Ricardo Bemsch (un schiavo), der eine wunderschöne Baritonstimme präsentierte. Besonders aufhorchen ließ Michael Laurenz Müller (Eunuco) mit einem kurzen aber äußerst souveränen Auftritt: Schöner Tenor, kraftvoll fokussiert wie eine Trompete. Merkzettel!
Stimmgewaltig konnte sich auch der Chor (Einstudierung Jürg Hämmerli) in Szene setzen, v.a. beim Auftritt von Seids Gefolge im 2. Akt. Gekleidet in (Latex) Frack, Zylinder und mit gewelltem grauem Haar, teils mit Bart, erinnerten einige der Vertreter der neuen Schicht aus Unternehmern und Bankiers unweigerlich an Verdi, wie man ihn von einem seiner berühmtesten Portraits kennt. So war nicht nur Byron, sondern auch der wegen Streitigkeiten mit seinem Verleger bei der Uraufführung abwesende Verdi in der Schweizerischen Erstaufführung auf der Bühne vertreten.
Die Harems(Chor)damen, anfangs gekleidet in roten Latex-Ballkleidern, hatten einige szenische Herausforderungen zu meistern. Möglicherweise war dies der Grund, warum in der Haremsszene zu Beginn des 2. Aktes nicht so präsent und akzentuiert gesungen und erst danach zur gewohnt starken Leistung gefunden wurde. 
Die fesselnden und vor allem zu Beginn der Inszenierung zahlreich vorhandenen Regieideen nehmen zum Ende hin ab. Dies zeigte sich zunächst zu Beginn des 3. Aktes, in dem Juan Pons in seiner musikalisch ohnehin wenig wirkungsvollen Arie, in der er sich über seine untreue Gulnara beklagt, relativ konventionell über die Rampe bringen muß und noch mehr im letzten Bild, in der Todesszene des Korsaren, als der Protagonist lediglich aus dem Bett steigt und sich ins Wasser kniet. Wahrscheinlich wäre genau hier eine packende Regieidee nötig gewesen, um dieser spektakulären Produktion auch eine letztlich emotionale Wirkung zu geben.
 
Spektakuläre Bühne

Das eher konservative Züricher Publikum applaudierte allen Beteiligten, vor allem Grigolo, Giannattasio und Lokalmatadorin Elena Mosuc und auch dem Regieteam, das kaum Buhrufe einstecken mußte.
Bis kurz vor Vorstellungsbeginn war dieser Premierenabend am 22. November 2009 nicht ganz ausverkauft, was möglicherweise an den Premierenpreisen von bis zu 320 SFr für die teuerste Kategorie lag. Die zu Unrecht relativ selten auf die Bühne gebrachte Oper war zuletzt u.a. nur in Parma (2004), Busseto (2008) und Bukarest (2008/09) zu erleben. Insgesamt ist der selten gespielte Corsaro schon allein wegen seines spektakulären Bühnenbildes und der guten Besetzung eine Reise nach Zürich wert!

Redaktion: Frank Becker