Auf Giglis Dachboden

Ein Besuch in Recanati

von Dorothea Renckhoff

Foto © Frank Becker
Auf Giglis Dachboden
 

Die Luft ist trocken und sehr warm in dem dämmrigen Raum. Es riecht nach Staub. Gestalten in hohen Glaskästen drängen sich im Zwielicht.
Die kleine alte Dame geht eilig zum Fenster, öffnet eines, stößt die Läden auf. Helligkeit und Frische strömen herein. Draußen liegt das Herz von Recanati im Sonnenlicht, auf Augenhöhe gegenüber der Palazzo Publico mit dem Zinnenturm, wie ihn hier in den italienischen Marken fast jede der mittelalterlichen Städte hat, die die zahllosen Hügel krönen. Tief unten die Piazza Leopardi, benannt nach dem berühmtesten Sohn der Stadt, Giacomo Leopardi, dem jung verstorbenen Dichter.
 
Die kleine alte Dame ist weitergeeilt, sie macht sich in einer Ecke zu schaffen,  und dann geschieht ein Wunder. Eine Stimme füllt den Raum, schwerelos, leuchtend und so voller Leben, daß die toten Dinge auf dem Dachboden wieder zu atmen beginnen.
Es ist die Stimme von Benjamino Gigli, des italienischen Tenors, den man auch den legitimen Nachfolger von Caruso genannt hat, was vielleicht in Bezug auf die Schönheit der Stimme zutrifft, nicht aber, wenn man deren Charakter meint. Carusos sehr heldisches, fast baritonal gefärbtes Organ wäre vielleicht mit dem von Mario del Monaco zu vergleichen; Giglis Tenor schien ohne diese zuweilen düstere Tiefe, war geschmeidig und biegsam, ohne dabei leicht zu sein. Es lagen Welten zwischen ihrer Art zu singen: Caruso sagte, er habe oft das Gefühl, ihm müsse beim Singen der Hals platzen; Gigli bereitete sich auf seine Auftritte vor, indem er die gesamte Partie ganz zart summte. Jeder von ihnen verzauberte sein Publikum auf seine Art.
Der internationale Erfolg von Benjamino Gigli nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Film erscheint heute als schöner Beweis für die Phantasie des Publikums: der kleingewachsene, dickliche Mann mit den schon frühzeitig schütteren Haaren entsprach so gar nicht dem Rollenspektrum der leidenschaftlich schmachtenden Liebhaber, das er auszufüllen hatte.
 
Auf dem Dachboden des Palazzo Communale von Recanati läßt sich heute studieren, mit welch ernsthafter Uneitelkeit er in seine Partien geschlüpft ist: hier, im ‚Museo Gigli’, steht der Besucher seinen Kostümen aus mehr als 30 Opern gegenüber. Kleidsam sind viele von ihnen für einen Mann von seiner Statur nicht. Doch Gigli trug Knie- und Pluderhosen, bauschige Wämser und riesige Hüte ohne jeden Versuch zu mogeln, sprich: die Silhouette ein wenig zu strecken. In ihren Glaskästen stehen seine Kostüme da und erzählen von einer Zeit, als Maske und Kleidung für jede Rolle feststand und Sänger mit ihrer eigenen Garderobe reisten. Da gehört zum sizilianischen Liebhaber Turiddu die Schärpe und wenn sie den Bauch noch so sehr betont, zum Maler Cavaradossi die hautenge Hose, egal, wie die Beine darin aussehen und zum Banditen Ernani die Escarpins, die auch nicht jeden Mann kleiden.
 
Doch die Stimme, die jetzt den Dachboden von Recanatis Rathaus mit Schönheit und Sehnsucht füllt, verzaubert auch die Gewänder in den Schneewittchensärgen. Hie und da regt sich ein Arm, bewegt sich eine Falte, scheint unter einem Hemd eine lebende Brust zu atmen, als blühe der Gesang aus ihr empor. Auch der Schminktisch, die nachgebaute Garderobe des Sängers mit seinen Briefen und Andenken, alles hat sich verändert. Aus dem Mastixdöschen, mit dessen Hilfe er sich falsche Bärte geklebt hat, steigt ein Duft nach Harz, der Staub vor dem Spiegel scheint Puder zu sein, den er eben noch verstreut hat, und am kostbarsten der hier zusammengetragenen Geschenke – einem Spazierstock von Giuseppe Verdi – ist der Griff bestimmt noch warm. Von Giglis Hand? Von der Verdis…?
Plötzlich bricht der Gesang ab. Die Zeit ist um. Fenster und Läden werden wieder geschlossen, und der Dachboden sinkt zurück in seinen Geruch von Staub, in Dämmerung und Stille.
 
Die kleine alte Dame geht zur Tür voraus, die vielen prachtvollen Treppen hinab, bis zum Haupteingang des Rathauses. Und wird nun ganz energisch, denn sie hat noch ein zweites Wunder zu verschenken. Villa Coloredo Mels, sagt sie und zeigt den Weg. Eine Gemäldegalerie. Nicht alle Bilder müsse man sehen, sagt sie. Wenn man eilig sei, nur eines. Von Lotto. Eine Verkündigung. Lorenzo Lotto, wiederholt sie, noch drängender. So zwingend, daß der Besucher sich auf den Weg macht, Giglis Gesang noch im Ohr, zu einem gemalten Frauengesicht, so schön in seiner Erschütterung, daß es so schwer zu vergessen ist wie das Wunder auf Giglis Dachboden.


© Dorothea Renckhoff