Kinderschicksal aus dem 19. Jahrhundert

Lisa Tetzner - "Die schwarzen Brüder"

von Jürgen Kasten
Lisa Tetzner
"Die schwarzen Brüder“
 
 
Die Musenblätter widmen sich nicht nur Neuerscheinungen und aktuellen Produktionen, sondern stellen gelegentlich auch Literatur vor, die nicht in Vergessenheit geraten darf oder einfach zeitlos ist.
So verhält es sich mit dem Roman „Die schwarzen Brüdern“ von Lisa Tetzner, der bereits 1941 entstand; aber nach wie vor auf dem Büchermarkt präsent ist. Derzeit wird er bei Sauerländer (Unionsverlag/Sansibar, Verlagsgruppe Patmos)  schon in der 16. Auflage publiziert.
 
Vor einiger Zeit berichteten wir hier von Ruth Rewalds „Janko – Der Junge aus Mexiko“, ein Jugendbuch der sogenannten deutschen Exilliteratur. Lisa Tetzner schrieb in der gleichen Tradition. Sie und ihr Mann Kurt Kläber, wie später auch andere, schufen eine neue Art von Jugendliteratur, die ernste Themen aufgriffen, gleichwohl spannend und unterhaltsam erzählten, ohne in die Manier der fragwürdig moraltriefenden Kindergeschichten des 19. Jahrhunderts zurückzufallen.
Lisa Tetzner lebte ebenfalls im Exil. Allerdings war sie keine Jüdin wie Rewald, vielmehr durch ihren Mann dem Kommunismus verbunden. Kurt Kläber war KPD-Funktionär und geriet mit den Nationalsozialisten in Konflikt. Unter dem Pseudonym Kurt Held ist er uns bekannter, zum Beispiel als Autor des berühmten Kinderbuches „Die rote Zora und ihre Bande“. Beide verließen Deutschland bereits 1933 und lebten fortan in der Schweiz, in der Nähe von Lugano. In der Nachbarschaft wohnten u.a. Hermann Hesse und Bertolt Brecht, die zu ihren Freunden zählten.
 
In Sachen Literatur war Lisa Tetzner eine umtriebige Frau. Besonders phantastische Kinderliteratur

Der Lago Maggiore bei Cannobio - Foto © Jürgen Kasten
hatte es ihr angetan, wobei sie nicht nur selber publizierte, sondern auch förderte oder vorlas, u.a. im Rundfunk. Astrid Lindgren machte sie im deutschsprachigen Raum populär; C.S. Lewis „Narnia“ übersetzte sie ins Deutsche. Es lohnt sich, dem spannenden Leben der Lisa Tetzner nachzuspüren - (im Internet findet man viele Hinweise).
Sie selber fand in einem Archiv in der Schweiz einen Hinweis, daß um 1840 sechzehn Kinder mit einer Barke im Sturm vor Cannobio versanken. Sie forschte weiter nach und gründete darauf ihren Roman „Die schwarzen Brüder“. Sie wird als alleinige Autorin genannt, doch gibt es Hinweise, daß sie das Buch zusammen mit Kurt Held schrieb. Manche Quellen bezeichnen Held gar als den Autor.
Ich war gerade in Cannobio, da bleibt es nicht aus, sich gerade diesem Roman zu widmen.
 
Erzählt wird die traurige Geschichte des 13-jährigen Giorgio, der mit seiner Familie im Verzascatal, in Sonogno lebte. Die Familie ist arm, hat aber ihr Auskommen. Als die Mutter schwer erkrankt, muß ein Arzt aus dem fernen Locarno her, kann jedoch nicht bezahlt werden. Dem Vater bleibt nichts anderes übrig, als seinen Sohn an einen Werber zu verkaufen, der im Tessin auf diese Art und Weise Kinder sammelt, die er nach Mailand bringt. Giorgio macht sich auf den beschwerlichen Weg durch das gesamte Tal bis nach Locarno, wo der Treffpunkt der Kinder ist. Von dort werden sie in der Nacht über den Lago Maggiore gerudert, bis südlich ins Piemont und weiter bis Mailand. Im Gewittersturm kentert das Boot. Giorgio und sein neu gefundener Freund Alfredo können sich retten. Beide zusammen ziehen auch den bösen Werber, den narbengesichtigen Antonio Luini aus dem Wasser. Der bringt sie nach Mailand. Dort verkauft er sie an Kaminfegermeister weiter. Das ist ihre

Sonogno im Verzascatal - Foto © Jürgen Kasten
Bestimmung. Mailand, die pulsierende, aufstrebende Stadt hat viele hohe Kamine, die gesäubert werden müssen. Das „Schornsteinfegerbesteck“ heutiger Tage war noch nicht bekannt. Die schmalen, flinken Kinder wurden als lebende Feger in die Schlote geschickt. Viele von ihnen überlebten das nicht. Sie starben an Entbehrungen oder an Rauchvergiftung. Von den meisten ihrer Herren wurden sie wie Sklaven gehalten, zogen ab frühmorgens durch die Gassen und riefen ihr „Spazzafornello“, womit sie ihre Dienste ausriefen. Dabei wurden sie auch noch von kriminellen Mailänder Jugendbanden gehänselt, geschlagen und verfolgt.
 
In ihrer Not trafen sie sich heimlich nachts und gründeten den Bund der „Schwarzen Brüder“, um sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Giorgio hat es besonders schlimm angetroffen. Sein Meister hat eine bösartige Frau, die den Jungen jeden Tag grausam durchprügelt, unterstützt von ihrem hinterhältigen Sohn, der den Straßenbanden angehört. Die Situation wird unerträglich. Giorgios Freund Alfredo stirbt. Auf dem Krankenbett erzählt er ihm ein Geheimnis und nimmt ihm ein Versprechen ab. Giorgio flieht mit einigen wenigen Kameraden und sie schlagen sich auf abenteuerliche Weise zurück ins Tessin durch. Dort in der Schweiz ist er in Sicherheit und er löst in Lugano das Versprechen ein, das er seinem gestorbenen Freund gab.
 
Empfohlen wird dieser Roman für Kinder zwischen 12 – 13 Jahren. Ich kann versichern, er ist auch für Erwachsene eine spannende, herzergreifende Lektüre mit realem historischem Hintergrund. Schon allein wegen des Lokalkolorits gehört er ins Reisegepäck eines jeden Tessin-Touristen. Ein Klassiker
deutschsprachiger Jugendliteratur.
 
Lisa Tetzner – „Die schwarzen Brüder“
484 Seiten - Gebundene Ausgabe:
© Verlag Sauerländer; Auflage: 16. Aufl. (2007)
ISBN-10: 3794122313
ISBN-13: 978-3794122318
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre
€ 19,90 (D), € 20,50 (A), sFr 34,90 (CH)
 
Weitere Informationen: