Das offene Wort

Haben sie Josefine Mutzenbacher gelesen?

von Frank Becker

Haben sie Josefine Mutzenbacher gelesen?

Es gab einmal eine prüde Zeit, da wurden Bücher wie die heute beinahe harmlos wirkenden Memoiren der wienerischen Dirne Josefine Mutzenbacher ausschließlich unter dem Ladentisch verkauft, vornehmlich an Bahnhöfen und auch nur, wenn man artig einen Revers ausfüllte, durch den man quasi schon mit einem Bein im Zuchthaus stand. Das war in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schlimme vermuffte Zeiten mit dem Kuppeleiparagraphen, dem Abtreibungsverbot und der Strafbarkeit der Homosexualität waren das, in denen mitunter ein wenig Erotik schon zur Pornographie erklärt wurde. Im Kino war immerhin der Zugang zu Filmen mit Szenen der Gewalt und unverhüllter Nacktheit streng reglementiert, das Fernsehen hatte einen definierten bürgerlichen Erziehungsauftrag.
Aber manch ein Exemplar der "Fanny Hill" oder eben der Mutzenbacher hat sich dann doch durch die Selbstkontrolle des Buchhandels - vermeiden wir das häßliche Wort Zensur - geschlichen und der Revers blieb unausgefüllt. Mit klammem Herzen und schwitzigen Fingern wurde geblättert und nach den "Stellen" gesucht. Die entpuppten sich letztlich als weniger gefährlich. Und wer sich kühn einen Kinosessel in "Schock" oder "Und ewig lockt das Weib" erobert hatte, erlebte ein kleines, eher harmloses Abenteuer mit dem Reiz des Verbotenen. Geschadet hat es nicht.

Doch wenn ich in unseren Tagen des erwachenden 3. Jahrtausends, in denen wenig verboten zu sein scheint, sogar Jugendbücher in die Hand bekomme, die mit der Beschreibung sexueller Praktiken jeglicher Couleur
in scheinbarer Liberalität auch der Sprache bemerkenswert freigiebig umgehen, schiene mir ein wenig mehr Zurückhaltung gar nicht so sehr abwegig. Wenn ich dann auch noch mit ansehen muß, daß Filme und Video-"Spiele" mit Inhalten brutalster, auch sexueller Gewalt produziert werden dürfen und für noch formbare junge Menschen nahezu unkontrolliert zugänglich sind, dabei gleichzeitig die mit einer erschreckenden Verwilderung der Sprache einher gehende spürbar zunehmenden Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen registriere, faßt mich ein Entsetzen. Der Schutz- und Erziehungsauftrag des Staates gegen die Perversion der "Unterhaltung" ist aufgrund untauglicher Politik scheints längst auf der Strecke geblieben, von untauglichen Eltern wollen wir gar nicht erst  anfangen zu reden.

Gesten Abend schlachtete ein Film eines Privatsenders unter dem Vorwand wissenschaftlicher Recherche mit erschreckender Kaltherzigkeit und grausamsten Bildern den Tod eines Menschen im Moor aus. Nachrichtensendungen von Privatsendern baden unter ähnlichem Vorwand, den sie Freiheit der Information nennen, in der mehrfachen, am liebsten Zeitlupen-Wiederholung von Bildern des Grauens von Tod, Angst und Gewalt. Ist das notwendig? Auch da täte eine gewisse (kontrollierte) Kontrolle Not - nennen wir es mit Augenzwinkern den "Mutzenbacher-Effekt". Muß ja nicht wieder wie in den 50ern sein. Doch man würde mit dem Verzicht auf Blutbäder, auf Mordlust schürende Filme,  die Hemmschwelle für Gewalt systematisch abbauende Killeranleitungen (sie sehen, mir sträubt sich die Feder, das Wort "Spiele" noch einmal zu benutzen) und mit dem Verzicht auf das Herabwürdigen des Sexus und der Erotik nicht nur die Jugend und ihre erwachenden Gefühle schützen, sondern unser Gemeinwesen und vor allem die edelsten der Empfindungen, Mitmenschlichkeit und Liebe. Das wäre es doch wert. Aber damit läßt sich wohl kein Geschäft machen.