„Ich spielte, da spielte ich mich dem Tod in die Hände“

Ines Geipel - "Zensiert, verschwiegen, vergessen" - Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989

von Friederike Hagemeyer
„Ich spielte, da spielte ich mich
dem Tod in die Hände“
 
 
Auch für Kenner der deutschen Nachkriegsliteratur ist es keine Schande, niemals von ihnen gehört zu haben – wohl aber ist es ein Verbrechen der DDR, ihres Staates, talentierte Autorinnen in die Isolation getrieben und zur Anonymität verurteilt zu haben.
Ines Geipel stellt in zwölf biografischen Abschnitten ostdeutsche Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen vor, die sich dem herrschenden Literaturbegriff des sozialistischen Realismus  verweigerten und versuchten eigene Stoffe, eine eigene Sprache und eine eigene Ästhetik zu finden. Da sie sich nicht beugten, sorgte das Ministerium für Staatsicherheit (MfS oder StaSi) dafür, daß fast keines ihrer Werke veröffentlicht wurde. Die Künstlerinnen waren dazu gezwungen, für die Schublade zu produzieren; sie vereinsamten menschlich und künstlerisch, mußten sich teils mit Hilfsarbeiten durchschlagen, um irgendwie zu überleben, ständig von der StaSi überwacht. Psychische Krankheiten, auch Selbstmord blieben in einigen Fällen die einzigen Fluchtmöglichkeiten.
 
„Die Königin der inneren Emigration“
Den Auftakt bildet Ricarda Huch; sie ist das erste Opfer sowjetisch-ostdeutscher Literaturpolitik.
Aus Sicht der neuen Machthaber kann es im Frühsommer 1945 kaum ein besseres Aushängeschild für den Neubeginn in der Literatur geben, als die prominente Nazi-Gegnerin und „grande dame“ der deutschen Literatur. Ricarda Huch läßt sich hofieren und glaubt wohl auch an eine echte „demokratische Erneuerung Deutschlands“ – jedenfalls anfangs. Bald stellt sich jedoch Ernüchterung ein; ab 1946 bekommt auch die 82jährige in Jena Zensur und Druck zu spüren.
Die Sowjetische Besatzungszone erweist sich für sie wieder als „Sklavenland“, in dem sie genauso gefesselt ist, wie die zwölf Jahre vorher. Mit 83 Jahren entschließt sie sich zur Flucht, kein leichtes Unterfangen, ist sie doch auf die Mithilfe der Engländer in Berlin(West) angewiesen. Nach quälend langem Warten und einer stundenlangen Fahrt im eiskalten verplombten Militärzug trifft sie am 25. Oktober 1947 in Frankfurt am Main ein. Doch ihre Kräfte sind aufgezehrt, am 17. November stirbt sie an Lungenentzündung im Gästehaus der Stadt Frankfurt in Kronberg, Taunus. Eigentliche Todesursache dürfte jedoch die Flucht aus ihrem geliebten Jena und die neue Heimatlosigkeit sein.
 
„Der Anblick der finsteren Nacht“
Jutta Petzold, geboren 1933, beginnt zwanzigjährig ein Germanistik-Studium an der Berliner Humboldt-Universität. Schon nach zwei Semestern bricht sie es ab; sie fühlt sich dem „Einmaligen, Großen, Gewaltigen und Idealen“ verpflichtet, „nicht dem Alltag und der Mitte“ (S. 145). Sie schließt sich dem Schriftstellerkreis um Arnold Zweig an, wird mit Peter Huchel und Erich Arendt bekannt. Hier kann sie erste eigene literarische Versuche vortragen und mit erfahrenen Kollegen diskutieren; man schätzt ihr souveränes Talent und zollt Beifall. 1959 gelingt es ihr, vermutlich mit Hilfe prominenterer Freunde, die historische Erzählung „Zola“ in der Literaturzeitschrift „Junge Kunst“ der Freien Deutschen Jugend (FDJ) unter Pseudonym zu publizieren. Es wird ihre einzige Veröffentlichung bleiben. Ihr „überbordender Sprachwitz“, ihr „Hüpfen von Vers zu Vers“, ihr „Kollagestil“, ihr spielerischer Umgang mit literarischen Vorlagen der Vorkriegszeit, an denen sie sich schult, all das paßt nicht in den immer enger werdenden Literaturbegriff der DDR, dem sich ab 1959 auch keine geringere als Anna Seghers beugt. – Jutta Petzold beugt sich nicht. Sie schreibt „Frauengeschichten“, ihre Heldinnen sind deutlich als „Antiprogramm zur in der ostdeutschen Literatur gängig gewordenen drallen, selbstbewußten, sozialistischen Arbeiterin“ (S. 148) zu erkennen – und, fast möchte man sagen, selbstverständlich, fallen sie bei der Zensur durch.
Das MfS hat sie längst unter Beobachtung als ihr 1961/62 ein Fluchtversuch mißlingt und sie nur knapp der Verhaftung entgeht. „Ein Fehlschlag im Realen, den sie durch eine Flucht ins Schreiben aufzufangen versucht“ (S. 151).
Von jetzt an lebt sie im Bett, schreibt verbotene Texte von Klabund, George, Lasker-Schüler ab und „transponiert die fremden Systeme in das eigene um“ (S. 151). Auf äußeren Druck reagiert sie mit „Wortexplosionen“, aufgelöster Syntax, Neologismen. 1964/65 arbeitet sie an einem längeren Prosatext, der von einem „literarischen Suizid“ erzählt.
Immer öfter muß sie sich in der Psychiatrischen Klinik der Charité behandeln lassen; Freunde berichten von „medikamentöser Überdosierung, die als Langzeitfolge die Kreativität der Dichterin zum Erliegen“ bringen (S. 157). Ihre literarische Produktion hört auf. „Heute lebt sie in einem Seniorenheim..., läuft viel über die Flure und skandiert Hölderlin-Verse“ (S. 158).
 
„Traut / mir nicht“
Jutta Petzold zerbricht, weil sie widersteht, Hannelore Becker zerbricht, weil sie sich beugt, nicht widerstehen kann.
1951 geboren, ein echtes DDR-Kind, durchläuft sie die Schule mit Glanz bis zum Abitur. Man bescheinigt ihr Intelligenz und außergewöhnliche Begabung in allen Fächern, regelmäßig wird sie beim Schulappell ausgezeichnet. Als 16jährige Schülerin schreibt sie Lyrik und wird in den „Kulturbund der DDR“ aufgenommen; es folgt eine Volontärzeit bei der „BZ am Abend“ und das Studium der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität.
Ab etwa 1970 wirbt das MfS verstärkt sehr junge Künstler als Infomelle Mitarbeiter (IM) an, man hat langfristige Pläne. Hannelore Becker ist eine von ihnen; mit zwanzig Jahren unterschreibt sie 1971 die IM-Verpflichtung und berichtet eifrig.
Nach drei Jahren verebben die regelmäßigen Berichte, sie erscheint nicht mehr zu konspirativen Treffen und sie sucht sich eine Arbeit als Verkäuferin. Offensichtlich bemüht sie sich, auch finanziell unabhängig zu werden. Konsequent bittet sie 1975 um Entlassung aus der IM-Tätigkeit und tatsächlich wird sie „entpflichtet“. Zum Schweigen gezwungen, leidet sie unter den früheren Lügen, ihrem Maskenspiel.
Sie schreibt Lyrik, „... ach diese stille / all unsre lügen / erstickt sie“ (S. 168).
Im selben Jahr beginnt sie  an ihrem Drama „Kassandra“ im Blankvers zu arbeiten, acht Jahre vor Christa Wolf. Hannelore Beckers Stück wird niemals veröffentlicht. Sie zieht sich zurück in eine „Puppenwelt“ (S. 172).
Mit dem Dichter Karl Mickel geht sie eine Liebesbeziehung ein. Es wird über seine Gedichte gesprochen, gemeinsam daraus gelesen. Aber ob sie ihm auch ihre Texte zu lesen gibt? Ob sie ihm von ihrer zunehmenden Tabletten- und Alkoholsucht erzählt? – Was sie sicher nicht ahnt ist, daß ihr Liebster in engem Kontakt zum MfS steht.
Gerade erst 25 Jahre alt springt sie am 13. Februar 1976 vor seinen Augen aus einem Fenster seiner Wohnung in den Tod. Bei der ersten Befragung erklärt Karl Mickel, er habe zwar intime Beziehungen zu „der Becker“ unterhalten, sie aber nie geliebt (S. 175).
 
Ines Geipel, die Autorin, ist selber „gelernte DDR-Bürgerin“ und auch DDR-Opfer, denn sie war als Leistungssportlerin unfreiwillig in das DDR-Dopingsystem eingebunden.
Einfühlsam und mitfühlend schildert sie in ihrer eindringlichen Sprache - es ist unübersehbar, daß sie selber schriftstellerisch tätig ist - die bewegenden Schicksale von zwölf DDR-Autorinnen. Welch mühselige, langwierige Recherchearbeit vorausging, läßt sich aus der Danksagung an die aufgesuchten Archive nur in Ansätzen entnehmen. Denn „wie das erzählbar machen, was es nicht gegeben hatte, nicht geben sollte?“ (S. 7). Ines Geipel hat davon berichtet, was es nicht geben sollte; sie hat den  zensierten, verschwiegenen, vergessenen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen wieder ein Gesicht gegeben, ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und ihnen damit ihre Würde zurück gegeben.
Was uns, den Lesern in Ost- und Westdeutschland damals entgangen ist, können wir an Hand der bruchstückhaft in die Lebensgeschichten eingestreuten Texte nur ahnen. Aber die kurzen Auszüge machen neugierig und Lust darauf, mehr von Jutta Petzold,  Hannelore Becker und den anderen zu lesen.
Am Ende des Vorwortes schreibt Ines Geipel: „Das ist ein Anfang, die Blickschneise in einen noch verdunkelten Raum“ (S. 9). Es wäre gut, wenn es nicht bei diesem Anfang bliebe.
 
Ines Geipel - "Zensiert, verschwiegen, vergessen"  - Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989
© 2009 Artemis & Winkler - 280 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
Format: 219 x 147 x 28 mm, ISBN: 978-3-538-07269-5 - 24,90 € (D), 43,70 SFr (CH), 25,60 € (A)

© Friedrike Hagemeyer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009