Über das Anderssein

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Über das Anderssein
 

Alle Menschen sind anders. Zum Glück, muß man sagen. Wenn alle Menschen so wären wie mein Freund Rolf aus Hamm, dann hätte ich mich längst erschossen.
Kürzlich fiel mir auf, daß in Hamm das warme Wasser erst relativ spät aus dem Wasserhahn kam und dann gar nicht richtig heiß wurde. Ich schloß daraus, daß die Ham­mer abgehärteter sind als wir und sparsamer mit warmem Wasser umgehen als die Paderborner. Einmal fiel mir sogar auf, daß in Hammer WCs die Urinale höher angebracht waren als bei uns, so als wären Hammer Männer irgendwie größer und liebten Herausforderungen. Ich denke manch­mal, daß diese Dinge Rolf darin ermutigt haben müssen, so ganz anders zu sein als wir. Individualismus entsteht gerade durch Ungeschicklichkeit und dauerndes Improvisieren.
 
Nur wo es noch Fettnäpfchen gibt, kann man auch hin­eintreten. Ich kenne Menschen, deren Leben schon glänzt, wenn ihnen mal ein Computerprogramm abstürzt. Rolf stürzt noch selber ab, und wie. Rolf kann in der Bade­wanne mit den Zehen die Wassertemperaturen an seinem Wasserhahn regulieren. Nicht, daß ich ihn darum beneide, aber mich würde schon interessieren, warum er das macht, und was er dabei empfindet.
Ich habe mal einen Hausmeister in Hamm mit Mühe und Not eine Tür öffnen sehen mit dem Ausruf: »Oh, dahinter lauert ein Vakuum!« Ich überlege nun seit langem, warum es in Hamm Räume gibt, in denen ein Vakuum lauert. Was hat dort überhaupt eine Heizungsanlage zu suchen, die einen nebenstehenden Raum kalt sein läßt und dafür lieber dieses Vakuum in Kauf nimmt? Wissen Hausmeister immer, daß eine Tür, die sich nicht leicht öffnen läßt, ein Vakuum beherbergt? Im Grunde kenne ich nur ein Vakuum, und das heißt Rolf.
 
An dem Tag fand in der Hammer VHS eine Weinprobe statt, die nicht nur bei Rolf, sondern auch bei der Ju­gend großen Anklang gefunden haben soll. Der ausführende Weinhändler hatte dafür nicht nur die Flaschen abge­klebt, sondern auch auf den Eintritt verzichtet. Man konnte also teuren Wein schmecken, ohne von seinem Preis auf seine Wertigkeit schließen zu müssen. Man konnte aber auch einen gepanschten Tropfen genießen, ohne davon abgeschreckt zu werden, daß er einem eigentlich nicht schmeckt. Ich lese sehr oft in Zeitungen, daß Veranstal­ter gelobt werden für Veranstaltungen, auf denen auch Jugendliche zu sehen waren. Als wären Jugendliche an­sonsten Barbaren, die man nur chipsessenderweise bei irgend welchen Vakuumveranstaltungen vermutet und die Goethe für ein Parfüm und WESTfalen für eingeschworene Zigarettenraucher einer bestimmten Marke halten. Natür­lich verstehe ich auch nicht, daß es Jugendliche reizt, auf eine Weinprobe der VHS zu kommen. Warum muß man für Jugendliche überhaupt Weinetiketten abkleben, wenn sie doch sowieso nicht lesen können? Im Grunde glaube ich auch nicht, daß man auf Weinproben Jugendliche an­trifft, außer sie denken, es ginge dabei um ein Event, um das Erlernen von wahren Gefühlen, und diesmal hätte man es dort mit dem Weinen probiert. Man kann zwar der Jugend vorwerfen, was man will, aber sie begeben sich bestimmt nicht freiwillig in ungeheizte Räume, in denen sie nur alte Knacker und Heulsusen antreffen, wie z. B. Rolf. Es kann natürlich auch sein, daß in Hamm die Jugendlichen anders sind als anderswo, und das fände ich schon wieder sympa­thisch. Und sowieso ist es eher wichtig, was jemand kann, und nicht, was er nicht kann. Jugendliche können sonder­bar überraschend sein und sich nicht vorstellen, daß sie dabei alt werden.
 
Ich finde es wirklich gut, daß wir Menschen alle an­ders sind. Wie gesagt, wenn alle so wären wie Rolf, ich wüßte gar nicht, was ich vor lauter Aufregen noch für Ge­mütsbewegungen entwickeln sollte. In Hamm sind zum Beispiel die Frauen sehr schön und tragen dicke Teddybärmäntel, die gegen Kälte schützen sollen. Es ist oft so, daß Menschen einer Stadt, die vom Stadtbild und von den Freizeitangeboten her umstritten ist, in Liebesdingen sehr phantasievoll sind und überall wärmen wollen. Der Haus­meister in Hamm erzählte mir z. B. sofort einen Witz über einen evangelischen und einen katholischen Priester, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob der Begriff des Priesters für beide Glaubensrichtungen gestattet ist. Egal, er erzählte mir also diesen Witz über diese beiden Priester, dessen Pointe darauf hinauslief, daß beide bei aller Verschieden­heit doch auch das Gleiche wollten, und das war die Frau von dem evangelischen Pfarrer. Ich glaube sogar, daß die­ser Witz leicht anzüglich war, aber ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu verstehen. Anrührend war letztendlich, daß der Hausmeister versuchte, bei aller Andersartigkeit einen gemeinsamen Nenner zu finden. Da höre ich mir doch manchen schlechten Witz gerne zweimal an, was mir an diesem Tag übrigens noch viermal bevorstand.
 
Ich finde es gut, daß alle Menschen anders sind als Rolf. Hat mir doch kürzlich Rolf gesagt, daß er froh wäre, daß nicht alle Menschen so seien wie ich, sonst hätte er sich längst erschossen. Zum Abschluß hat er mich noch »Du Paderborner« genannt, als wäre das schon ein Schimpf­wort. Das ist doch wirklich der Hammer.


© Erwin Grosche

Redaktion: Frank Becker