Vom Verschwinden des Fersengehers

von Friederike Zelesko

Foto © Frank Becker
Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind,
verschwinden die Mysterien und das Leben ist erklärt.
(Mark Twain)
 
 

Vom Verschwinden des Fersengehers
 

Neulich, als ich Dienstwege im Institut machte, wußte ich nicht mehr wo ich war. Es sind lange Wege von einem Fachbereich in den anderen oder in die Verwaltung, wo ich die Formulare abholte. Ich füllte viele Formulare aus, die ich entweder in Umlaufmappen legte und dem Postmann des Instituts mitgab oder selbst ins zuständige Dezernat brachte, wenn es sehr dringend war. Eine dringende Bestellung einer Apparatur etwa, oder eines Aktenschrankes. Den Aktenschrank benötigte ich in letzter Zeit selbst. Für mein Gedächtnis. Ich legte meine Wege in eine Hängeakte. Ich sah immer nach, wo ich war. Danach traf ich ihn das erste Mal.
 
Er rollte seine Füße beim Gehen nicht ab. Er bewegte sich auf den Fersen vorwärts wie ein Pinguin, der nicht in seinem Element war. Seine Arme schwang er mit. Sein Haar war streng zurückgekämmt und schien immer feucht. Er hatte ein Lurchgesicht, mit großen, wässrigen Augen. In seinem Blick hing ein letzter Tropfen Naß. Das Naß verschüttete sich nach innen. Er trug eine ungebleichte Leinentasche. Sie war ganz fleckig vom vielen Hinstellen seiner Habe. Woraus diese Habe bestand, wußte niemand. Ihre Kostbarkeit demonstrierte er, wie er die Tasche trug. Seine beige Jacke war frisch gereinigt. Der Stoff bauschte sich in Wellen. An der braunen Hose waren die Hosenbeinränder dick wie kleine Schlangen. Sie ringelten sich über die Joggingschuhe. Die Schuhe waren vom Fersengehen ganz schief.
 
Ich traf den Fersengeher jetzt jeden Tag. Sein Geruch setzte sich an meinen Wegen fest. Oft saß er auf der Bank vor der Cafeteria und hielt einen gerillten, braunen Plastikkaffeebecher am schmalen oberen Ende. Er hielt ihn stets in Brusthöhe, so als müßte er sich vor dem Inhalt schützen, und nicht trinken. Er saß ohne Regung, ohne den Kopf in die Richtung eines plötzlichen Studentenauflaufs zu wenden. Er wurde gesehen und übersehen. Niemand sprach mit ihm. Er hatte kein Verlangen mit jemanden zu sprechen. Eines Tages verschwand er in den Waschraum mit den vielen Spiegeln. Tagelang suchte ich seine Spur.



© Friedrike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker