60 Jahre 60 Werke

Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949-2009

von Frank Becker
Dokumente

60 Jahre Kunst in der
Bundesrepublik  Deutschland


Ein Staat
im Spiegel

seiner Künstler



Es erscheint einem als halsbrecherisches Unterfangen, die 60-jährige künstlerische Entwicklung eines 60-Millionen-Volkes, das mit seiner politischen Erneuerung auf zwei Drittel der Strecke auf 80 Millionen aus zwei Kulturkreisen anwuchs, auf 60 Darstellungen seiner Bildenden Kunst einzudampfen. Walter Smerling hat den Versuch mit einer Auswahl von 60 Exponaten in seinem Katalogband zu der umfangreichen Ausstellung "Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949-2009" gewagt. Der Kölner Wienand Verlag hat das
Buch-Projekt mustergültig umgesetzt. Mit der Gestaltung des vorderen Deckel ist dabei ein brillanter Einfall verwirklicht worden: mit den Namen der 60 präsentierten Künstler zwei exemplarische Bilder zu transportieren - Ernst Wilhelm Nays "Stellar chromatisch" (1955) und Bernd Nanningas Foto von Joseph Beuys, der das besetzte Sekretariat der Düsseldorfer Kunstakademie verläßt (1972).

Eine gesamtkulturelle Chronik

Entstanden ist eine gesamtkulturelle Chronik des Konstrukts "Bundesrepublik Deutschland", das von Gerhard Seyfried so treffend als "Rest-Deutschland" bezeichnet worden ist. Als dann 1990 "Rost-

Ernst Wilhelm Nay - Stellar chromatisch (1955)
Deutschland" hinzukam, hatten die Deutschen ihre durch eigene Schuld verstümmelte Heimat wieder zu einem recht ordentlichen Teil zusammen und konnten sich mit sehnsuchtsvollem Blick auf die gänzlich verlorenen Ostgebiete wieder als "Deutschland" in die schwarz-rot-goldene Brust werfen. Walter Smerlings Chronik zeigt, was die Deutschen künstlerisch in diesen 60 Jahren umtrieb - pro Jahr an einem Werk, das er mit seinem Stab als repräsentativ erachtet hat. Eingeteilt wurde das Ganze der Verdaulichkeit halber in Dekaden. Elegant dabei die Lösung, dem abgehandelten Jahrzehnt eine großzügig bebilderte Einführung voranzustellen, also die Jahresblätter nicht so ganz allein auf weiter Kultur-Flur stehen zu lassen. Und man bietet - nicht als Kehrseite der Medaille - vor dem dann jeweilig pro Kunstjahr ganzseitig dargestellten Kunstwerk ein ebenso gewissenhaft ausgewähltes historisches Fotodokument des Jahres an, ein Gegenpol des Alltags sozusagen.

Wie beginnen - was aufnehmen?

Es mutet wenigstens ebenso schwer an, für das Jahr 1949 einen passenden, gerechten Anfang zu

Gerhard Richter - Tiger (1965)
finden. Die Herausgeber haben es sich mit der Auswahl von Werner Heldts "Stilleben mit Häuserblick" gewiß nicht leicht gemacht, denn in einer Zeit des Neuanfangs drängte auch die über zwölf Jahre unterdrückte freie Kunst wieder an die Öffentlichkeit. Neue Bildsprachen wurden erschlossen, Farben durften explodieren, der gegenständliche Kitsch der Nazi-Vergangenheit geriet ins völlige Aus. Emil Schumacher, Wols, Willi Baumeister und der erwähnte Ernst Wilhelm Ney öffneten den Blick für elementare Formen, Hans Uhlmann, Norbert Kricke und Günther Uecker fanden zur Aussage einer neuen Plastizität. Fluxus und Fotokunst, Pop Art und Plakatives Ton-Performance und Radikalität beanspruchen und bekommen ihren Platz in der neueren Kunstrezeption. Bernd und Hilla Bechers Architekturfotos, die Kopffüßler von Horst Antes, Joseph Beuys´ Filz, Gotthard Graubners raumgreifende "Matratzen", Gerhard Richters revolutionäre Foto-Verfremdungen, die Neue Leipziger Schule am Beispiel Neo Rauchs "Konvoi". Es gibt keine Grenzen des künstlerischen Ausdrucks mehr.

Kunst weckt Sehnsucht

Man kann getrost behaupten, nahezu jeder Betrachter des üppigen Bandes, dessen Bild-Beiträge kompetent kommentiert sind, hätte eine andere Zusammenstellung für repräsentativ bzw. präsentabel gehalten. Dem muß sich eine Auswahl immer stellen. Dennoch: in der Gesamtsicht zeigt sich der

Thomas Ruff - Porträt (1987)
greifbare Eindruck einer neuen Kunst-Epoche. Für jeden der dabei war, ein déja vu, für jeden, der zu späteren Generationen gehört, eine hochspannende Einführung in die jüngste (Kunst-)Geschichte. Das Buch hat das Zeug, zum unentbehrlichen Bestand einer zeitgenössischen Kunstbibliothek zu gehören. Der Dekade der 80er Jahre ist ein Zitat von Heiner Müller vorangestellt: "Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär." Das muß man, zumal es von einem der kompromißlos radikalsten Theaterleute kam, nun nicht ganz wörtlich nehmen, aber seine Sicht hat durchaus einen wahren Kern. Eine alphabetische Künstler-Übersicht nebst Abbildungen aller ausgestellten Arbeiten und ein Apparat mit den Biographien rundet den ansehnlichen Band.
Mehr als 50.000 Besucher haben die Ausstellung im Berliner Gropius-Bau gesehen.


60 Jahre. 60 Werke - Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009
Hg. Walter Smerling, Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn
Texte von Bazon Brock, Robert Fleck, Siegfried Gohr, Peter Iden, Dieter Ronte, Matthias Winzen u.a.
384 Seiten mit 275 farbigen und 307 s/w Abb., 21 x 27 cm, gebunden, mit Mehrfach-Lentikular-Bild auf dem vorderen Deckel - ISBN 978-3-86832-000-8
Preis: € 29,80 (SFr 49,90)

Weitere Informationen unter: www.wienand.de