Plauderstunde

Über Graugänse, Krysztof Penderecki und die Ausrottungder Menschheit durch Mobiltelefone

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker

Konrad Beikircher
Plauderstunde

Über Graugänse, Krysztof Penderecki und
die Ausrottung
der Menschheit durch Mobiltelefone



Ich habe in den sechziger Jahren Psychologie studiert und dazu gehörte – vor dem Vordiplom – daß man sich in der Verhaltensforschung auszukennen hatte. Dazu verhalf uns Paul Leyhausen, ein Konrad Lorenz-Schüler und exzellenter Tierkenner. Nachdem er uns in die Geheimnisse der Eiroll-Bewegung der Graugans eingeweiht hatte – das ist etwas, was Herr Tinbergen entdeckt hat: rollt der Gans ein Ei weg, holt sie es zurück. Weil das aber offenbar in den letzten zehn Millionen Jahren milliardenfach passiert ist, daß nämlich ein Ei wegrollt und weil so manche Gans einfach zu blöd ist, das Ei wieder zurückzuholen, hat die Evolution dafür gesorgt, daß die Bergung automatisch läuft: sie hat die dafür nötige Bewegung der Gansmama – den Hals über das Ei hinaus recken, mit der Unterseite des Schnabels das Ei zurückrollen bis es wieder im Nest ist – zum Instinkt erklärt. Das heißt: sieht die Gans ein Ei vor sich, überlegt sie nicht lange sondern rollt es zurück. Nimmt man ihr nun das Ei weg, bevor sie es  zurückrollen kann, rollt sie weiter, also mit dem Schnabel, so, als wär das Ei noch da. Woran man sieht: die Gans schnallt nix, einfach rein gar nix und das deshalb, weil diese Bewegung: Hals recken, Ei einfangen und zurück rollen sozusagen chromosomonal verankert ist. Das ist so wie der Blick von Männern, wenn sie ein gelungenes Dekolleté vorgeführt bekommen, sie wollen schnackseln, wie Gloria von Thurn und Taxis anzumerken beliebte. Warum ich Ihnen das erzähle? Weil genau diese Eiroll-Bewegung der Graugans mich zur zeitgenössischen Musik führte und zwar am 30. März 1966.
 
Ich saß also an der für die Ausbildung zum Psychologen extrem wichtigen Seminararbeit über das Thema “Die Eirollbewegung der Graugans auf dem Hintergrund des Lorenz’schen Triebmodells” für Herrn Dr. Leyhausen - der einmal sagte, gegen die Expressivität der Laute einer Katze in der Rolligkeit sei die 5. Sinfonie von Beethoven kastriertes Gesäusel - und quälte mich wie gesagt mit irgendwelchen Aufsätzen dazu ab, als mein Transistorradio (von der Größe einer Zigarettenschachtel und mit dem Klang eines Rasiermessers, das über die Scheibe schrillt) mir sagte, daß jetzt aus Münster die Live-Übertragung einer Passion von Krysztof Penderecki kommt, der Lukas-Passion.
 
Bis dahin hatte ich dahin zwar schon einiges an Neuer Musik gehört und mich immer - wie ich dachte - sehr dafür interessiert. Immerhin hatte ich mir die drei Tientos für Gitarre von Hans Werner Henze ‘draufgeschafft’ und sie auch gemocht und vieles andere mehr.  Die LukasPassion von Penderecki aber war ein Erlebnis, das mich verändert hat. Daß es nur ein kleines Transistorradio war, das ich mir vors Ohr hielt um keinen Ton zu versäumen, war egal, daß ich die Baßtöne nur ahnen konnte, die hohen Töne mir die Ohren zersägten, ein Raum gar nicht zu hören war und das Ganze höchstens eine schlechte Schwarz-Weiß-Kopie des Originals sein konnte - was spielt das für eine Rolle, wenn Dich ein wirkliches Kunstwerk in der Seele trifft.
 
Eineinhalb Stunden habe ich nicht geatmet, ich habe die Brücke zu meinem vergötterten Bach gespürt in einer musikalischen Sprache, die die meine war, ich war erschüttert, bewegt, ergriffen von einem Kunstwerk, das für mich zu den größten dieses Jahrhunderts gehört. Angesichts dieses Kunstwerks bedaure ich - beinahe - nicht mehr, daß die Bachische Lukas-Passion verlorengegangen ist. Bei dem ganzen Fetischismus um CD’s und High Fidelity und diesem ganzen Gerenne um sogenannte Ohrentreue denke ich immer an dieses Erlebnis. Wie unwichtig ist das doch alles, wenn Du vor einem Werk stehst, dessen Inhalt Dein Leben verändert.
 
Und derselbe Leyhausen – um noch mal zum Anfang meiner Betrachtung zurückzukehren - vertrat die Auffassung, daß sich das Leben selber reguliere. Er erklärte zum Beispiel Kriege nicht so sehr aus politischen Dynamiken heraus, sondern aus biologischen: wenn die Sozialdistanz - also die Distanz zu anderen Menschen, ihren Wohnungen etc. pp., die man als angenehm empfindet – reduziert wird, z.B. wegen Überbevölkerung, dann käme es zu Verhaltensweisen, die die Überbevölkerung wieder reduzieren, z.B. käme es dann zu Unfruchtbarkeit der Weibchen, zu Zeugungsunlust der Männchen, zu Massenselbstmorden wie bei den Lemmingen, zu Epidemien etc. pp. Das heißt also: sind wir zu viele, sorgen wir dafür, daß wir wieder überschaubar werden. Natürlich gibt es da viele Wege: der Japaner tritt z.B. die U-Bahn Reisenden in die Waggons hinein in der Hoffnung, daß die dann wegfahren und weg bleiben, eine Hoffnung die, wie wir wissen, sich noch nicht erfüllt hat. Der Japaner kehrt zurück, um sich erneut treten zu lassen und wegfahren zu können. Der Chinese setzt sich in Autos statt in menschengezogene Rikschas und merkt gar nicht, daß dies ein Mechanismus zur Reduzierung der Gattung ist usw. usw. Jetzt sind Forscher, Künstler und Autoren aber hinter einen ganz neuen Mechanismus gekommen, der dazu dient, die Menschheit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren: das Handy und unsere Telefonitis. David Servan-Schreiber hat in Frankreich einen Aufruf erlassen, dem sich eine ganze Reihe paranoider Wissenschaftler angeschlossen haben: sie warnen vor der Strahlengefahr, die von mobilen Telefonen ausgeht. Er sagt: „wir sind heute da, wo wir vor fünfzig Jahren beim Tabak und mit dem Asbest waren“ und meint damit. Heute telefonieren wir, in 50 Jahren werden wir an geschwollenen Ohren sterben. In langen Handy-Gesprächen mit ähnlich denkenden Kollegen hat Servan-Schreiber zehn Gebote gegen das mobile Telefonieren verfasst, die uns das Überleben sichern sollen. Der Tatsache, daß es ein Segen wäre, wenn durch das mobile Telefonieren und der damit verbundenen Krebsgefahr genau der Teil der Menschheit ausgelöscht würde, der uns heute schon mit seinen unglaublichen Gesprächen ohne Ende nervt „Ich sitz hier im Zug, Schatz, in zwei Minuten bin ich bei dir in Sechtem“ oder „Ich steh hier an der Ampel, ich kann dich schon sehen!!!“, sagt er nix. Woran man mal wieder sieht, daß nicht unbedingt weise ist, wer nur das Wohl der eigenen Art im Sinn hat!

Schönen Tag auch!
Ihr
Konrad Beikircher


© Konrad Beikircher - Erste Veröffentlichung in dieser Form in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker