Der Philolog

von Victor Auburtin

Carl Spitzweg - Der Bücherwurm
Der Philolog
 

Täglich, nachmittags um drei Uhr, ging der Philolog durch den Stadtpark in die Landesbibliothek; und so tat er es seit vielen Jah­ren bei jedem Wetter. Im Winter trug er einen Winterüberzieher, im Sommer einen Sommerüberzieher, und wenn es regnete, spannte er seinen Schirm auf. In der Bibliothek setzte er sich an seinen bestimmten Platz, schlug einen Band der Werke Ciceros auf und zählte nach, wie oft dieser Römer das Wort quamquam gebraucht hatte.
Denn das war seine Lebensaufgabe, die er sich gestellt hatte: er wollte eine Statistik aufsetzen über das Vorkommen des Wortes quamquam bei allen lateinischen Schriftstellern und feststellen, wie oft dieses Wort den Indikativ und wie oft den Konjunktiv re­gierte. Er hatte darüber schon zwei Bände in Großoktav bei B. G. Teubner in Leipzig herausgegeben.
Der Krieg brach aus, die Welt brannte lichterloh an allen Enden, und der Philolog las davon in seiner Zeitung; aber er setzte seine Forschungen gewissenhaft fort. Die Bibliothek wurde immer lee­rer, es saßen jetzt keine jungen Studenten mehr darin, sondern nur noch alte Leute wie er, und im Winter war es schlecht geheizt; das war alles, was er von der Not der Zeit merkte.
Da kam der finstere November 1918, in dem das alte Deutschland zusammenstürzte. Auf seinem Wege durch den Stadtpark blieb der Philolog stehen und dachte: Drei Kaiserreiche umgeworfen, Fürstentümer, die aus der Kreuzzugszeit stammten; und keinen Herzog soll es mehr geben im Lande Widukinds. Auf was kann man noch bauen und vertrauen, wenn nicht einmal das standhält?
Der Baum, unter dem er solches dachte, war eine junge Birke, und der Philolog blickte zu ihr auf. Die herabhängenden Zweige wa­ren kahl, aber sie trugen an ihren Spitzen schon die Knospen, aus denen die Blätter des kommenden Frühlings hervorsprießen soll­ten. Diese Knospen waren klein und stramm, und sie schienen fest entschlossen, die kalte Zeit durchzuhalten, komme es so toll, wie es wolle. Wir wissen nicht, dachte der Philolog, was von unseren menschlichen Einrichtungen im nächsten Jahre noch besteht; aber daß diese Knospen im kommenden Frühjahr aufblühen wer­den, das eine wissen wir bestimmt.
Als der Philolog am Tag darauf durch den Stadtpark kam, lag die junge Birke gefällt am Boden; denn sie war durch den Verschöne­rungsverein umgelegt worden, der an ihrer Stelle eine Bedürfnis­anstalt zu errichten gedachte. Der Philolog sprach vor sich hin: »Na, dann nicht« und ging in die Landesbibliothek. Dort setzte er sich an seinen gewohnten Platz, schlug die Rede für Roscius Ame­rinus auf und begann seine Arbeit da, wo er sie gestern liegen ge­lassen hatte. Eines steht fest, so dachte er, nämlich daß quam­quam, wenn es ironisch gemeint ist, immer den Konjunktiv re­giert. Das nimmt mir keiner weg, und mehr brauche ich auch nicht.