„Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben.“

Glyn Maxwell - "Das Mädchen, das sterben sollte"

von Jürgen Kasten
„Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben.“ 
 
Susan Mantle spricht diesen Satz, ein unkorrektes Zitat nach Dylan Thomas. Richtig beginnt sein Gedicht mit dem Eingangssatz: „Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.“
 
Susan hat Literatur studiert. 28 Jahre alt ist sie und lebt in London, in dem alten Haus ihrer Eltern. Die haben plötzlich festgestellt, daß sie 60 Jahre alt sind, nur herumsitzen, es immer regnet und so sind sie nach Südfrankreich gezogen, “wo sie soixante sind und nur herumsitzen und es immer fait beau“. Susan zahlt nun keine Miete mehr und hat gar keinen Ansporn, einen anständigen Job anzufangen. Als Fremdenführerin arbeitet sie, erzählt reichen aber dummen Amerikanern unsinnige Geschichten und ist bereits aus einer Agentur rausgeflogen. Eine bleibt ihr noch.

In ihrer Mittagspause schlendert sie immer an einem Haus mit verhängten Fenstern und mystischen Symbolen vorbei. Nun geht sie einmal hinein und die Wahrsagerin saugt aus ihrer Kristallkugel Sätze, die Susans Leben auf den Kopf stellen: „Sie werden berühmt. Sie werden reich. Sie werden einem großen, dunklen Fremden begegnen. Sie werden Nein zu ihm sagen bis zu dem Tag, an dem Sie Ja sagen. Am Tag darauf werden Sie sterben.“
Susan ist erschüttert. Tränenüberströmt taumelt sie durch die City, spricht immer wieder diesen Satz vor sich hin „Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben“.
 
Ein Kamerateam verstellt ihr den Weg, hält ihr ein Mikrophon vor. Sie merkt es nicht, wankt weiter. Am Abend befindet sie sich in den Hauptnachrichten. Am nächsten Tag auf den Titelblättern der Boulevardpresse. Durch einen terroristischen Anschlag wurde ein komplettes Filmteam in die Luft gesprengt, mit über 100 Toten. Unter ihnen Thomas Bayne, der bekannteste, reichste und beliebteste Mime Englands und Hollywoods. Die Reporter der Fernsehsender schwärmten in die Fußgängerzonen, um betroffene Stimmen einzufangen. Doch Thomas Bayne war gar nicht am Set. Sein Double wurde zerfetzt. Wenige Minuten, bevor das bekannt wurde, sagt diese hellseherische Frau den Satz „Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben“. Wer ist diese unbekannte Schöne, die im ganzen Land Trauer in Hoffnung verwandelte, fragt nun die gesamte Presse. Min verrät es ihnen. Min, dieses unterbelichtete Mädchen aus der Grundschule, wie Susans Mutter immer sagt. Min ist Susans beste und einzige Freundin und sie ist geschäftstüchtig. Damit hetzt sie Susan den gesamten Boulevard auf den Hals und treibt sie in tiefste Verzweiflung.
 
Glyn Maxwell, Jahrgang 1962, schuf in zweierlei Hinsicht ein bemerkenswertes Buch. Zum einen ist es eine bitterböse Satire, fast eine Farce, auf die dummdreisten Realityshows, welche die Bildschirme verseuchen, gegen den Medienrummel, der jede Lächerlichkeit aufbläst und den Hype, der um vorgebliche „Promis“ gemacht wird. Zum anderen handelt es sich um einen reinen Dialogroman. Das heißt, niemand erzählt eine Handlung. Die Geschichte entwickelt sich einzig aus den Gesprächen der Protagonisten, aus Plaudereien, Telefonaten oder Kommentaren von Fernsehmoderatoren. Selbst ein Kontoauszug erklärt sich selbst, indem er sich eins zu eins so darstellt, wie er aus dem Automaten kommt.
Das war einige Seiten lang gewöhnungsbedürftig, machte aber zunehmend Spaß. Vor allem, weil die verschiedenen Sprechenden auch mit unterschiedlichen Schrifttypen dargestellt werden. Was burlesk beginnt, gewinnt im Laufe der Geschichte Spannung und Tiefgang. Für Susan erfüllt sich eine Prophezeiung nach der anderen und es naht nun der Tag, an dem sie sterben soll. Wird es so kommen?

Wer diesen Roman gelesen hat, wurde nicht nur intelligent unterhalten, sondern wird das Mediengeschäft mit anderen Augen betrachten, vielleicht auch die dort „vorgeführten“ Geschöpfe mit Mitleid statt Schadenfreude bedenken. Unbedingt empfehlenswert.
Beispielbild

Glyn Maxwell
Das Mädchen, das sterben sollte
 
Aus dem Englischen von Martina Tichy
 
© 2009 Verlag Antje Kunstmann
 
456 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
€ 19,90
ISBN: 978-3-88897-551-6
 
Weitere Informationen unter: www.kunstmann.de