Die Not des Körpers und der Seele

Adolf Muschg - "Der Zusenn oder das Heimat" - gelesen von Walo Lüönd

von Frank Becker
Die Not

Ein Brief an ein Gericht. Ein Brief, der etwas unbeholfen, doch von eindringlicher Bescheidenheit versucht, zu erklären, wie es zu der Straftat kam, derentwegen der Schreiber in Untersuchungshaft sitzt. Es geht hier um ein gesellschaftlich besonders geächtetes Verbrechen: Inzest. Adolf Muschg hat das heikle Thema in seiner Novelle "Der Zusenn oder das Heimat" in schlichter Sprache äußerst sensibel aufgegriffen - der Schweizer Schauspieler Walo Lüönd gibt den Worten eindrucksvoll Stimme.

Seit vor Jahren der gut gehende Hof des jetzt 57-jährigen Bauern niedergebrannt ist, wobei sein kleiner Sohn in den Flammen umkam, was auch den frühen Tod seiner Frau zur Folge hatte, ist er gezwungen, sein Leben mit den beiden mittlerweile erwachsenen Töchtern auf einer abgelegenen, im Winter oft völlig abgeschnittenen Alm zu fristen. Das Leben ist hart, die Einkünfte gering, der Unterhalt karg. Glück gibt es nicht, nur Arbeit und Pflicht. Und schon lange war der Bauer nicht mehr "geplagt". Doch irgendwann sieht er in der Tochter Lina (37) mit "von der Not" verklärtem Blick seine verstorbene Frau. Es kommt zur seelischen und körperlichen Entladung, die ein dauerhaftes inzestuöses Verhältnis von Vater und Tochter zur Folge hat. Schließlich wird Barbara (21) in dieses Verhältnis einbezogen. 

Den Behörden und der Geistlichkeit "bleibt der Verstand stehen", als sie durch Denunziation Wind von der Sache bekommen. Die jetzt von der Behörde "versorgten" (weggeschlossenen) Töchter belasten bei ihrer Einvernahme den Vater, der nun zu seiner Rechtfertigung nach allgemein akzeptablen Erklärungen sucht.  Es sei nicht aus Wollust geschehen, "nur der Ruhe wegen", eine "Verwilderung" sei nicht eingetreten - und "endlich lebten wir in Frieden zusammen", versucht der Mann in seinem Brief zu vermitteln. Zwischendurch begehrt er in aller Bescheidenheit gegen behördliche Fehler auf, versucht, die Gemeinschaft zur Mitverantwortung für seinen Zustand und den der Töchter verantwortlich zu machen.

Man weiß nicht, ob man ihm die scheinbare Biederkeit seines Denkens abnehmen soll. Walo Lüönd vermittelt die Gedanken und Worte dieses einfachen Mannes, der offensichtlich aus dem doppelten Inzest ohne Schuldgefühle sogar ein kleines Glück gezogen hat, hervorragend. Seine Interpretation haucht den Buchstaben Leben ein. Der Autor Adolf Muschg, dem ein sprachlich delikater Umgang mit dem Stoff gelungen ist, findet hier die ideale verbale Ergänzung seiner unaufdringlich gefühlvoll erzählten Geschichte. Ein Hörbuch von besonderem Rang.

Beispielbild


Walo Lüönd liest
Der Zusenn oder das Heimat
von Adolf Muschg

1 CD - 46:39

© 1972 Suhrkamp Verlag
(P) 1980 Schweizer Radio DRS
© 2009 Christoph Merian Verlag

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