Begegnung mit einem Schriftsteller

Eine Erzählung nach der Erzählung - oder wie liest man Peter Handke

von Friederike Zelesko

Foto © Frank Becker

"Es ist klar: ich kann mir eine Heimat nicht zusammenfinden durch Sehen, Hören, Riechen, Erinnern – ich muß sie mir erschreiben, erfinden …"
(P. Handke, Die Geschichte des Bleistifts)
 
Begegnung mit einem Schriftsteller

(Eine Erzählung nach der Erzählung -
oder wie liest man Peter Handke)
 

1. Fremdes und eigenes Schuhwerk
 
Er teilt sich die Zeit ein, das weiß jeder. Morgens keine Zeitung lesen, nach dem Frühstück geht er ins Freie, am liebsten zum Stadtrand. Der Nachmittag gehört dem Schriftsteller. Auch wenn sich die Zeile sträubt, geschrieben wird, so oder so.
 
Draußen in der Menge richtet er seinen Blick zu Boden. So ist er auch da ganz auf sich konzentriert. Zwischen fremdem und eigenem Schuhwerk gehen die Leserin und der Schriftsteller ein Stück des Weges zusammen. Er dreht sich nicht um, sieht nicht, wie ihm ihr Augenpaar folgt.  Es kommt schon mal vor, daß er einen Zug abfahren läßt, mit den Tauben am Bahnhof wiederholt Zwiesprache hält, oder die Bahngleise zählt.
 
Die Leserin sieht in ihm nicht den Verirrten. Sie sieht ihn frei, die Leere eines Bildes füllend, das er, und später auch sie, anschauen. Das Schauen im Bild ist schon immer, schon als er Kind war, seine Natur gewesen. Weil er sie ständig erinnert an Geschautes, Gehörtes, also Gelebtes, will sie seine Nähe, sodaß sie ihre Verwandlung für möglich hält.
 
Die erträumte Metamorphose: ein Grashalm, den er zwischen den Fingern hält, eine Tasse, aus der er trinkt, ein Vogel, den sein Blick fängt, eine Muschel aus dem Meer, die er besitzt, ein Buchstabe, den er immer wieder neu schreibt.
 
Schmunzelnd, sogar lauthals lachend, übt der Schriftsteller Distanz. Ein Hauch von Humor schiebt sich dazwischen. Die Beständigkeit seiner Worte führen der Leserin den jungen Rhythmus eines schon Fortgeschrittenen vor, der sie lehrt, sie zurechtrückt, weit in ihre Lesebegrenzung hinein.
 
Dann aber, an bestimmten Stellen, muß sie sich selbst Strecken erklären, seine Worte zurückführen zu ihr. Den ganzen Abend steht das Mondlicht im Garten. Nachtviolen mit schimmerndem Blauton erzeugen ein schläfriges Bild. Nur sie kann nicht schlafen weil sie ins Wort verstrickt ist.
 
2. Verlustsammlung
 
Die Leserin hat Verluste erlitten, Heimatgefühle beiseite getan. Eine Heimkehr, auch langsam, kommt nicht in Frage. Vielleicht in Gedanken gespielt damit das ein oder andere Mal hat sie schon. Aber so richtig entschlossen daran festgehalten hat sie nie. Fremd sein in einem fremden Haus ist sehr verlockend, so ganz ohne emotionale Verpflichtung.
 
Dann ist er auf einmal da, der Verlust. Tief drinnen ist er gespeichert und sie ruft ihn manchmal auf nach draußen zu kommen, zwingt die Erinnerung in die Knie. Immer nur werden winzige Teilchen sichtbar, sind in alle Richtungen verstreut und es wird mühsam sein daraus das eine, wahre Bild zu schaffen.
 
Seine Worte reichen über die Vorstadt hinaus. Erst wenn die Leserin sie in der Nähe sieht werden sie wirklich. So fallen sie ihr ins Gehör stehen in Sichtweite hinter den Peripherien.
 
In der freien Ebene ist die Landschaft grün mit dem Hauch der Wintersaat. In den Erlen leuchten kreisrunde Mistelnester, Schmarotzer, die der Schriftsteller im Baum großzügig duldet. Sein Jägerhochsitz ist am Zeilenrand, davor der Fluß, der Weidenstumpf. Jedes Jahr wird der Baum gestutzt. Und immer wieder regt sich der neue Wuchs ohne Fragment. Der Schriftsteller aber findet, von Zweifeln gequält Worte, die ebenfalls ohne Fragment auskommen. Satzgewehre liegen schon längst auf der Lauer vor dem Wort Reh oder Hase. Es gilt sie zu treffen bevor der Satz gefallen ist.


3. Die Wiederholung
 
Der Schriftsteller ist unterwegs. Er braucht den Kontakt zur Erde, zur Vegetation. Er hat Bahnhöfe und Bushaltestellen verlassen, geht von Ort zu Ort, notiert das was er sieht, am folgenden Tag. So verarbeitet er das Gesehene zweimal, einmal ganz nah, das andere Mal aus der Entfernung. Das Vergangene wird in der Distanz deutlich, gefühlsneutral, zusammenfassend, begreifbar im schützenden Abstand. Es hinterfragt, vergewissert, verbirgt oder verheimlicht nichts aus Scham. Seit seiner Kindheit hält ihn die Scham des Augenblicks über ein Gefühl gefangen. Seine Scham hat nichts zu tun mit Prüderie. Es ist eher ein Schüchternsein, das von einem tiefen Empfinden zeugt, und von einer Zurückhaltung, die fast bis zur Willenlosigkeit fesselt. Er mag diese Zustände nicht, die ihn zwingen wegzusehen, sich zu schämen für etwas was er im Augenblick schön findet.
 
In solchen Zuständen hilft es ihm auf die Wiederholung zu vertrauen. Schließlich lebt er als Schriftsteller davon, daß sich ständig alles wiederholt. Er findet alles schön, was ihn erstaunt, erregt, oder bestärkt. Er findet es schön, wenn die Landschaft ihr Bein auf seine Schulter legt, die Blüte ihn auffordert ihren Körper zu entdecken, den er als guter Liebhaber in der kleinsten Regung eines Instinkts abschreitet. Das Abschreiten von Grenzen innerhalb einer Landschaft hat er bis zur Perfektion geübt, die Schritte bergauf gezählt. Jetzt wartet er oben, am Berg angekommen, auf den ekstatischen Laut, auf das Erstaunen im gegenseitigen Erkennen. Wenn er sein Auge in die Talsohle bettet empfindet er sich als ganz und jeder Hingabe fähig.
 
Die Fähigkeit der Leserin ihm zu vertrauen hat fast etwas Kindhaftes. Vielleicht ist das das ewige Kindsein im Geist, eine zurückliegende tief empfundene Geborgenheit, die ohne Einschränkung glücklich macht.
 
Ja, sie fühlt sich bei ihm geborgen. Die Vollkommenheit einer Wortschöpfung ist für sie etwas Religiöses, wie der Kreis der Zeit, wie die Unaufhörlichkeit und endlose Fortdauer eines Rosenkranzes. Ihr Glaube an die Heilige Dreifaltigkeit ist nicht gefestigt. Doch glaubt sie an die Macht der Worte, an die Lebendigkeit der menschlichen Natur. Sie spürt die Lebendigkeit des Schriftstellers.
 
 

© Friedrike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern
2009
Redaktion: Frank Becker