Mein Andersen

Ansichten eines sächsischen Kindes

von Karla Schneider

H.C. Andersen

Mein Andersen

 

Ansichten eines sächsischen Kindes

 

Während einer Hofpause im zweiten Schuljahr trat eine Mitschülerin auf mich zu, Blick auf mein Schulbrot, das - ungebuttert, mit Vierfruchtmarmelade getränkt - sich bereits hyperbelgleich verformt hatte: "Was willst'n dafür hamm?" Für mich gab es nur eine Währung: "Haste Bücher?" Einen Tag später brachte sie mir, was sie entbehrlich fand. Einband stark gelockert, fehlender Rücken, keine Illustrationen. "Andersens Märchen" stand vorne drauf. Sagte mir nichts. Egal, ich bekam das Buch, sie eine Woche lang mein Pausenbrot, im Herbst fünfundvierzig.
Der Ton fiel mir sofort auf. Total anders als bei Grimms, Bechsteins oder Hauffs Märchen. Er schwelgte in Bildern, aaste förmlich mit Beiwörtern, und die Metaphorik bediente sich genau so natürlich des Klischees wie die Schuster-Ursel auf dem Nachhauseweg, wenn sie mir ihre Stammbuchblümchen schilderte. Eine besondere Vorliebe schien mein neuer Herr Andersen für das Epitheton "niedlich" zu haben, oft noch superlativiert, gefolgt von "herrlichst" und "wunderbar" sowie jeder Menge Gold und Silber.

Auch wurde die Handlung immer mal wieder angehalten, um etwas zu beschreiben, das am ehesten noch den Szenen einer Ausstattungsrevue gleichkam. Hjalmars Traumtrip durch das von OIe Luköje zum Leben erweckte Wandbild zum Beispiel. Da besteigt der Hauptdarsteller ein Boot mit silbernen Segeln, gezogen von sechs Schwänen (Goldkronen um die Hälse und blaue "strahlende", also paillettenfunkelnde Sterne auf dem Kopf). Das erste Bild stellt einen Wald dar, einen Waldprospekt besser gesagt, vor dem Bäume und Blumen "Erzählungen" sprich Solonummern absolvieren dürfen. Auch Fische (in Silber und Gold) und Vögel (rot, blau) haben Gruppenauftritte, nicht gerechnet kleinere Reigen der Mücken und Maikäfer. Pause, neues Bild: eine Drehbühne wechselnder Schlösser, teils Kristallpalast, teils Villa d'Este, vor denen kleine Divertissements einiger Prinzen und Prinzessinnen stattfinden, jeweils a deux mit Hjalmar, dem Star (Rangeleien um Zuckerferkel, "Regen" aus Rosinen udgl.). Drittes Bild: große Rührnummer in beschaulicher Stadtkulisse. Hjalmars altes Kindermädchen darf singen ("einen niedlichen kleinen Vers", "selbst gedichtet"), zuletzt großes Finale, wo alle tanzen - Vögel, Blumen, Bäume usw. usw. Vorhang, Applaus.
Später, als ich wusste, dass die Ambitionen des Verfassers eigentlich in Richtung Balletttänzer oder Sänger gegangen waren, wunderte ich mich nicht mehr.

Ebenfalls anders als bei Grimm, Bechstein und Hauff, meinen Gewährsleuten bisher, waren die Schlüsse dieser neuen Märchen. Denn wurde man dort nach sadistischen, kannibalischen, hunnischen, barbarischen Vorkommnissen mit einem alle Ordnung wiederherstellenden Ende in die höhere Gerechtigkeit entlassen, war diese Genugtuung hier selten zu bekommen, ging der kindliche Wunsch nach Harmonie und dem "so lebten sie glücklich bis..." kaum einmal in Erfüllung. Und falls doch, so schien mir das betreffende Ende seltsam unbefriedigend. Etwa, als sich das hässliche Entlein, dem unser aller Sympathie gehört, zum prachtvollen Schwan mausert; aber was fängt dieser mit dem neuen Image an? Er kommt sich regelmäßig Kuchenkrümel abholen, bei den Menschen. Also, wenn das sein Höchstes war - das hätte er als Ente auch haben können!
Nein, die Schlüsse schienen mir doch sehr verbesserungswürdig. Wie gerne hätte ich die Flucht der Porzellanschäferin und des Schornsteinfegers gelingen lassen! Der Seejungfrau ihren Prinzen gegönnt, nachdem sie sich so auf den Kopf gestellt hatte, um ihn zu kriegen! Oder die Umerziehung Däumelinchens, als sie zuletzt von dem "herrlichen Prinzen" zur Frau genommen wird, sich aber sagen lassen muss, ihr Name sei "ein hässlicher Name" und: "Wir wollen dich Maja nennen". Ohne ihr Einverständnis einzuholen. Und überhaupt: wer bestimmt, was hässlich ist und was "herrlich"? Nein, ich hätte es gern gesehen, wenn sie auch von da wieder geflüchtet wäre.

Apropos Unbehagen: im mir liebsten Märchen, der "Schneekönigin", empfand ich die Ärmlich-aber-reinlich-Idylle des Anfangs als geradezu scheinheilig. Dieses bei der Hand Halten der Kinder, das Rosengeküsse und dann noch dieser unsägliche Liedvers vom "Christkindlein" und "Jesulein"! - IdentifIkation hier unmöglich. Obgleich mein Milieu viel Paralleles hatte. Lieber hätte ich stattdessen die Handlung bei den zahmen Krähen etwas ausgedehnt. Oder noch lieber in der Schlossruine der Räuber. Zehn fade kleine Gerdas hätte ich hergegeben für das einzige Räubermädchen.
Was für eine schauerliche Szenerie und wie hinreißend geschildert! (nur ein einziges "niedlich" drin) Indem ich mich dem Räubermädchen anverwandelte, verlor ihre Art zu leben alles Abstoßende. Die brutale Räubermutter, die sich bisweilen lächerlich aufführte, und auf deren Nasenstüber hin "die Nase rot und blau wurde" - wie ich das am eigenen Leibe erfuhr! Nicht die Nase freilich, sondern Ohren und Hinterkopf, die dröhnten und feuerten.
"Ich schlafe immer mit dem Messer, man weiß nie, was kommen kann." Auch das war mir nur zu vertraut; einen Winter und einen Frühling lang konnte allnächtlich aus der Luft etwas "kommen", nach dem dann nichts mehr kam, und dass es dreimal danebenging, war nur um Haaresbreite. Wie gesagt: meine Welt.
Ich lasse mich nicht davon abbringen, dass Astrid Lindgren ihrer Pippi ein paar Eigenschaften des Räubermädchens gegeben hat, auf jeden Fall das Selbstbewusstsein, die Unerschrockenheit und die Plötzlichkeit beim Durchführen einmal gefasster Entschlüsse. Ich meine aber, dass das Räubermädchen ungleich mehr Würde hat, und ihre Unschuld ist kreatürlich anstatt pulcinellisch.

Was mich außerdem an den Märchen des erfasteten Buchs faszinierte, waren die Wohnsitze, Kämmerchen, Schlösser, Hallen und Höhlen, die niemand mit bloßem Auge sofort ausmachen konnte, lagen sie doch unter der Erde oder der Wasseroberfläche. Die Unsicherheit aller über der Erde befindlichen Häuser stak als Angst noch im Gehirn, die noch vorhandenen Trümmer waren der beste Beweis. Und nur zu bereitwillig kroch die Phantasie des lesenden Ichs in den Elfenhügel, der eine ganze Sippschaft beherbergte, in die "Staatsstube" der Kröte unterm Morast, in die Kornkammern der Feldmaus unter den Stoppeln. Und des Meerkönigs Schloss, mehrere Kirchtürme tief auf dem Grund, erbaut aus Korallen und Bernstein, mit selbst lenzenden Muschelschalen als Dach, war doch immerhin beruhigend an sich, wenn auch als Notasyl eher nicht verwendbar.

Eine schon epidemische Küsserei durchzog die Märchen meines neuen Buches. Das fand ich befremdlich. Bei uns wurde nicht geküsst. Nicht im normalen Leben, allenfalls bei großen Familientreffen, und dann mit Bedacht und Auswahl. Im "Schweinehirten" gehörten die Küsse ja noch dramaturgisch zur Handlung, aber sonst? Däumelinchen küsst die scheintote Schwalbe, die kleine Ida küsst die abgeschlafften Blumen, Johannes küsst seinen Reisekameraden "viele Male", die böse Königin küsst Kröten, ein armes Mädchen küsst Jasminknospen, die Seejungfrau küsst ihren ertrunkenen Prinzen, der wiederbelebte Prinz küsst die stumme Nixe, die Schneekönigin küsst Kai kalt, Gerda küsst ihn wieder warm und so weiter und so fort, eine wahre Völlerei des Busselns. Das nahm dem Märchendichter in meinen Augen doch etwas von der Reputation und stellte ihn in die Nähe von Onkel Herbert, der im Falsett lachte, Kissen bestickte und die Teppichfransen kämmte, und der einmal einem Besuch den Stiftzahn fortgeküsst hatte.

 

© Karla Schneider - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007