Thriller!

"Menschen im Hotel" - Vicki Baums Roman in einer beeindruckenden Bühnenfassung von Anna Bergmann

von Frank Becker

Panoptikum

Anna Bergmann setzt Vicki Baums
Erfolgsroman gekonnt für die Bühne um


Regie
: Anna Bergmann - Bühne: Constanze Kümmel - Kostüme: Claudia González Espíndola - Musik und Sound Design: Heiko Schnurpel - Choreografie
und Live am Klavier : Roderik Vanderstraeten - Fotos: Hans Jörg Michel
Besetzung: Flämmchen (Maja Beckmann) - Grusinskaja (Christine Schönfeld) - Suzette (Katja Uffelmann) - Baron von Gaiern (Henning Hartmann) - Das Hotel (Ronny Miersch) - Kringelein (Peter Lohmeyer) - Dr. Otternschlag (Oliver Möller) - Direktor Preysing  (Sebastian Kuschmann) - Zinnowitz (Bernd Rademacher) - Live-Musiker (Roderik Vanderstraeten) - Tänzerinnen und Tänzer des T.T.C. Rot-Weiß-Silber Bochum e.V.

Eine schillernde Gesellschaft

Zur Einstimmung öffnet ein rot livrierter Portier das messingbeschlagene gläserne Portal des Bochumer Schauspielhauses - im Saal werden in Endlosschleife schwarzweiße Filmbilder Berlins der 20er Jahre projiziert, dazu tönt Tanzmusik der Zeit. Die Weltstadt Berlin war die brodelnde Metropole des Reiches, dorthin zog es alle und jeden. Glücksritter, Geschäftemacher, Künstler, gescheiterte Existenzen, Verzweifelte, Halbseidene und Gauner - die schillernde Gesellschaft einer bewegten Epoche, die gern als die "Goldenen Zwanziger" oder auch treffender als die "Roaring Twenties" bezeichnet wird. Ein Dutzend Jahre ist vergangen, seit der Erste Weltkrieg Europa verwüstet hat, ohne die Grenzen des Deutschen Reichs zu berühren. Man lebt noch und wieder. Vicki Baum (1888-1960) hat diese trotz aller Unterschiede "geschlossene Gesellschaft" 1929 in ihrem mehrfach prominent verfilmten Erfolgs-Roman "Menschen im Hotel" wie mit dem Blick durch eine Lupe auf einen fiebernden Mikrokosmos beschrieben und dabei brillante Charakterstudien skizziert. Für einen umrissenen Zeitraum kreuzen sich die Wege der dramatis personae, verweben sich deren Schicksalsfäden, werden Begegnungen zu Schicksalen und Schicksale verwehen in Katastrophe oder kurzem Glück.

Gelungene Bühnen-Umsetzung

Anna Bergmann hat die Romanvorlage dramatisiert und ein einer gefeierten Premiere gestern auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses gebracht. Mit ihrer Besetzung traf die Regisseurin dabei ohnehin zu 100% ins Schwarze. Dank der ideenreichen Constanze Kümmel, deren multifunktionales
Bühnenbild jede Illusion von Raum und Geschehen geradezu verblüffend unterstützte, wurde das Bühnengeschehen auch zum optischen Genuß und Claudia González Espíndolas hervorragende Kostüme rundeten das gelungene Bild aufs Erfreulichste. Allein Peter Lohmeyers schlecht sitzender Anzug, Ronny Mierschs diverse Livrees und Maja Beckmanns Dessous zeugen von der brillanten Recherche und dem Einfühlungsvermögen der Kostümbildnerin.
"Berlin 1930" suggeriert eine Projektion auf dem sich hebenden Eisernen - die goldglänzende Drehtür spült Menschen ins Grand Hotel. In der Hall trifft man sich: Baron von Gaiern (Henning Hartmann), ein koksender charmanter Gauner mit Skrupeln, der todkranke Hilfsbuchhalter Otto Kringelein (Peter Lohmeyer), der einmal wie ein Generaldirektor leben möchte, Generalirektor Preysing  (Sebastian Kuschmann), der hier vom Pfad der Tugend abweichen und sein Leben ruinieren wird, Frl. Flamm "Flämmchen" (Maja Beckmann), Mietsekretärin und Aktmodell, die alternde Primaballerina Grusinskaja (Christine Schönfeld) nebst ihrer ergebenen Sekretärin Suzette (Katja Uffelmann), der durch eine Kriegsverletzung entstellte Dr. Otternschlag (Oliver Möller), ein Morphinist, der ständig im Hotel wohnt und Justizrat Zinnowitz (Bernd Rademacher).

Extra-Punkte für Ronny Miersch

Ronny Miersch
nimmt als "Das Hotel" in der Bochumer Inszenierung eine Rolle ein, die nicht hoch genug gelobt werden kann. Nicht nur hat er vor der Vorstellung (siehe oben) das Theaterportal geöffnet; in etlichen Masken und Kostümen verkörpert der hervorragende junge Schauspieler im fliegenden Wechsel das komplette Personal: Portier, Zimmermädchen, Bademeister, Couturier, Eintänzer, Etagenkellner, Gauner und Chauffeur. Als Michael-Jackson-Wiedergänger in Roderik Vanderstraetens grandioser Ensemble-Choreographie von "Thriller" ist er ebenso großartig wie als kokettes Kammerkätzchen, burlesker Minstrel-Neger, komödiantische Lagerfeld-Kopie und in der Pause als Croupier im oberen Foyer des Theaters.

Drama und Effekt

Der Stoff ist dramatisch - höchst dramatisch sogar, denn es werden Schicksale vorgestellt, die Sie und ich gar nicht haben möchten, in der Folge gar werden Menschen sterben und Existenzen ruiniert. Anna Bergmann hat eine Gratwanderung unternommen und dabei den Kern von Vicki Baums literarischer Intention getroffen, doch gelegentlich Eingriffe vorgenommen, die der Roman nicht hergibt. Nach vielen höchst unterhaltsamen Episoden, in denen Peter Lohmeyer als Kringelein, Henning Hartmann als Gaigern und Sebastian Kuschmann als Preysing pralles Komödien-Theater mit dramatischen Akzenten erleben lassen, Hartmann und Christine Schönfeld unbekleidet eine zarte Liebesszene voller unaufdringlicher Erotik zelebrieren und Maja Beckmann komödiantisch als "Flämmchen" das raffiniert-kluge Blondchen mit Ambitionen gibt, läßt Bergmann nach der Pause die Masken fallen. Der Bruch zeigt sich durch das aller prächtigen Plüsch-Kulisse entkleidete Bühnenbild, das durch große Emotionen ersetzt wird. Hier werden die Personen und ihre Darsteller aufs Äußerste gefordert. Kuschmanns Preysing bekennt sich zu befremdenden erotischen Obsessionen, denen sich Beckmanns zwar zur Prostitution, nicht aber zum Mißbrauch bereites Flämmchen ausgesetzt sieht. Hier hält man den Atem an, weil die Sache zu kippen droht, als Peysing als Voyer dem Entkleiden der hilflosen Flämmchen zuschaut, sich selbst auszieht und an seinem Glied zupft, bis er in das Negligé des Mädchens schlüpft. Zwar gelingt es Bergmann, durch Dramatik das Kippen ins unerträglich Lächerliche zu verhindern, doch bleibt der schale Geschmack des Effekts. Kuschmann hingegen bewältigt, ebenso wie Beckmann, diese gewaltige Aufgabe ergreifend. Peysings Totschlag an Gaisern entspricht in der Ausführung nicht der Vorlage, ist viel zu vordergründig brutal angelegt und neben seiner Travestie beinahe das einzige, dafür aber heftig zu Kritisierende dieser Inszenierung.

Unter die Haut

Ebenso unter die Haut geht Lohmeyers Verkörperung des Kleinen Mannes, der dem Tod ins Auge schaut, einmal im Leben nur wie die Made im Speck leben möchte und mit dem Ersparten ins Grand Hotel einzieht. Trotz seiner Miefigkeit läßt er sich nicht blenden: "Sekt und Kaviar und der ganze Klimbim, das ist nicht das Leben! Aber was ist das Leben?". Das findet er im Aufbegehren gegen die einschüchternde Macht des Generaldirektors, im Vergnügen schöner Garderobe und der Verehrung des Liebreizes der jungen Sekretärin, deren Schutz er für die letzten Atemzüge seines bemessenen Lebens übernehmen wird. Lohmeyer läßt die Erschütterung mitfühlen, die sein Kringelein erlebt. 
An seiner Seite agiert der sympathische Henning Hartmann als skrupulöser Gauner, der nicht bereit ist, alles zu tun, um zu seinem Vorteil zu kommen, der sogar die Diebesbeute zweimal aus menschlicher Rührung fahren läßt - beim ersten Mal, als er bei der Primaballerina einsteigt um deren Schmuck zu stehlen, sie verführt und sich in sie verliebt, beim zweiten Mal, als der dem verzweifelten Kringelein die gestohlene Brieftasche zurück gibt. Hartmann macht diesen zerrissenen Charakter glaubhaft. Ergreifend gibt Christiane Schönfeld die kapriziöse alternde Grusinskaja, die durch Gaigerns Liebe noch einmal aufblüht, bevor ihre Karriere und damit ihr Leben den endgültigen Knick erleidet. Gaigerns Tod bedeutet auch ihr Ende. Ihr Schatten, ihr in liebender Ergebenheit agierender guter Geist ist Katja Uffelmann als Suzette, die ganz unauffällig manch kleines Kabinettstückchen abliefert, nehmen wir nur ihren Schwan(ensee) als Beispiel. Der von Oliver Möller verkörperte gebrochene Zyniker Dr. Otternschlag bleibt, wie es die Vorlage verlangt, eine wenn auch wichtige Randfigur mit moralischer Aussage. Möller geht das vorzüglich von der Hand.

Abgerechnet wird zum Schluß

Ein großer Theaterabend, eine gelungene Aufführung, die aus dem vollen Spektrum der Bühne und ihrer Möglichkeiten schöpfte. Vorgeführt wird ein Panoptikum des Lebens. Schicksale erfüllen sich, abgerechnet wird am Schluß. Und daß das großartige Ensemble als Zugabe noch einmal den "Thriller" tanzte, machte den Abend vollends rund. Chapeau!
 
Weitere Informationen unter: www.schauspielhausbochum.de