Muttertag (2)

von Birgit Bayer

Birgit Bayer

Muttertag 2

 


Nele ist nicht zufrieden mit den dürren Worten ihrer ältesten Schwester. Schwer sinkt ihre grobe Stimme in das Partygemurmel : „Schöner Vortrag?! Das war mehr als ein schöner Vortrag. Das war schon ne Show!“ Sie friemelt das Zigarettenpapier um den bröseligen Tabak, leckt das Papierchen an, klebt es zusammen und schaut beifallheischend Tutta an. Aber die sieht nicht zu ihr hin.

Nele ist die Jüngste der drei Geschwister, aber sie sieht aus wie die Älteste. Wie alle Frauen der Familie hat auch sie diesen schmallippigen, dünnen Mund. Bei ihr ist er besonders ausgeprägt. Ihre Oberlippe ist nur noch eine farblose Linie, verschwunden unter der Schraffur der senkrechten Trockenfalten unter der Nase.  Die Unterlippe täuscht ein wenig Fülle vor, ist so gerade als Lippe noch erkennbar. Ständig spitzt sie den nicht vorhandenen Mund: Wenn sie die Zigarette zum Mund führt, wenn sie konzentriert etwas anschaut, wenn sie etwas trinkt. Dieser gespitzte Mund belebt ihr kugelrundes Altfrauenkinn. Es führt wie ein rundes Kartöffelchen ein  fröhliches Eigenleben in dem verwüsteten Gesicht. Die Haut ist schlaff, weiß und teigig, die eingefallenen Augen glanzlos und stumpf. Die Nasenwände sind papierdünn, zeigen große schwarze Krater der aufgeworfenen Nasenlöcher.

Wenn sie lacht, zeigt sie lückenhafte Zähne, dunkelgelb von Nikotin, vorne die beiden Schneidezähne fast schwarz. Auch ihre Finger, besonders die der rechten Hand, sind dunkelbraun vom Nikotin der Zigaretten, die sie bedächtig dreht, eine nach der anderen. Und dann raucht, eine nach der anderen. Ihre Hände sind noch unberührt vom vorzeitigen Alter. Sie sind schmal, die Fingernägel breit und kräftig, leicht geriffelt, mit hoher Wölbung und seitlichen steilem Abhang zum Nagelbett.

Es ist nicht das Alter, das ihre Stimme so brüchig und ihre Sprache so ungelenk macht. Es sind die fünf Jahre Spritzen mit Neurolepsin, die eine ständige, leichte Heiserkeit verursacht haben. Schizophrenie. Die Spritzen der Behandlung haben ihr eine schwere Zunge gemacht. Sie bewegt sich nur widerstrebend, um Vokale und Konsonanten zu formen. Ständig bereit, ins Lallen abzusacken, des Sprechens entwöhnt und durch Amphetamine verstummt, balanciert die Sprache hilflos auf schmalen Grat entlang gutturalen Tierlauten, immer gefährdet abzustürzen.

 

Doris, die mit dem Rücken zu ihr steht, bekommt eine Gänsehaut, als Nele plötzlich hinter ihr zum Sprechen ansetzt. Sie hört die laute, ungeschliffene Stimme ihrer 92jährigen Mutter, die durch Alter die Geschmeidigkeit des Lebens verloren hat, welche auch unvollständige Sätze, falsche Syntax und nicht stimmige Worte glättet. Ungelenk stolpert die Stimme über grobe, unbehauene Worte,  verstümmelt sie.

Doris dreht sich vorsichtig um. Natürlich ist es nicht ihre Mutter, das ist einwandfrei Nele, die da sitzt. Zusammengesunken, abgemagert, etwas abseits der anderen Gäste, mit dem ewigen Rucksack an ihrer Seite. Trotzdem haben sich die Härchen auf ihren Armen aufgerichtet.

Wie Nele war auch Doris´ Mutter Lotti die Jüngste eines Dreimädelhauses, scheinbar Tradition dieser Familie. Drei Mädchen, immer drei Mädchen. „Ich hatte eine goldige Mamá, ganz goldig“, sagte Lotti ihrer Tochter Doris. „Eine goldige Mamá, wirklich.“

Naiv hatte Doris als kleines Mädchen einmal gefragt: „Warum schreit ihr euch dann immer so an, wenn die Omi hier ist?“ Aber dann hatte sie der schwarze Blick getroffen. Muttis schwarzer Blick, der tötete. Er tötete jede Neugier, machte fügsam und willig. Doris hatte nie wieder gefragt. Erst als sie Ende 40 war, hatte sie begonnen, vorsichtig ein wenig nachzuhaken, versucht,  mehr zu erfahren.

 

Mit den Schwestern Leni und Juli war ihre Mutter, die Jüngste, in einer Werkswohnung der Vereinigten Kesselwerke groß geworden. Was Lottis Papá dort beruflich tat, blieb nebelhaft. Mal erzählten seine Töchter, er sei „Prokurist“, mal „Ingenieur“. Von Bedeutung bei allen drei Mädchen war lediglich, daß er etwas „im Büro“ tat. Im weißen Kittel. Nicht etwa im Blaumann. „Der Großvater arbeitete im weißen Kittel“, da waren sich später auch die drei  Enkelinnen Esther, Tutta und Nele sicher.

Seine Existenz als Geldverdiener war seiner Frau so wichtig, daß sie ihn als Herr im Haus bediente, was er mit feudaler Selbstverständlichkeit hinnahm. Bei Tisch war er der Einzige, der sich eine blütenweiße, stets frisch gewaschene und gestärkte Damastserviette umband. Seine Frau, Lottis Mutter, saß neben ihm in ihrer ewigen Schürze, füllte auf Anweisung seinen Teller und tauchte - falls seine Serviette durch unglückliche Umstände mal hinunterrutschte - in blitzartiger Geschwindigkeit unter den Tisch, um sie ihm wieder umzulegen.

Sonntags pflegte er seine drei Töchter zu einem Sonntagsspaziergang auf Düsseldorfs Königsallee zu führen. Dann ließ er sich von seiner Frau die von ihr sorgsam gewienerten und glänzenden Schuhe bringen, tastete nach seinem gefalteten, schneeweißen Taschentuch in der Brusttasche seines Anzugjacketts, stellte - immer erst seinen rechten, dann den linken - Fuß auf ein Fußbänkchen und wischte die letzten Staubkörner vom glänzenden, schwarzen Leder. Während seine Töchter in rosa, hellblau und weißen, wadenlangen Organzakleidern, passender Schleife im Haar und  weißen Handschuhen mucksmäuschenstill neben ihm aufgereiht zu warten hatten, warf er noch einen langen Blick in den Spiegel und prüfte den Sitz des gedrechselten  Schnurrbarts. Dann straffte er seine Schultern, schritt kerzengerade aus der Haustür und erwartete, daß seine Töchter auf der Straße mit ihm aufschlossen und ihn einrahmten. Es wurde kein Wort gewechselt auf diesen Gängen, die sie aus dem Arbeiterviertel Bilk bis zur „Kö“ führte. Einzige Bewegung war Papás respektvolles oder nachlässiges - je nach Einschätzung ihrer Bedeutung - Ziehen des Hutes vor anderen Spaziergängern. Die Mädchen hatten zu knicksen, durch keine wie auch immer geartete persönliche Äußerung aufzufallen und hübsch auszusehen.

Nach einem Gang, „Kö“ hinauf und hinunter, kehrte man im Café Kranzler ein. Die Mädchen bekamen - je nach Jahreszeit - ein Stück Kuchen oder ein Eis, Papá einen Kaffee. Hin und wieder zog Papá seine goldene Uhr - ein kostbar ziseliertes, geschmücktes Erbstück seines Vaters - aus der Westentasche, warf einen prüfenden Blick darauf und befand, immer um 11.00 Uhr: „Wir brechen auf“.

Zurückgekehrt in die Wohnung blieb ihm dann bis zum Mittagessen, das Mamá in Abwesenheit ihrer Familie gekocht hatte, jeweils eine halbe Stunde Zeit. Er verbrachte sie in der „kalten Pracht“, das heißt, im ungeheizten Wohnzimmer. Die Frauen hielten sich in der Wohnküche auf. Im Wohnzimmer hatte er die Ruhe, um die bisherigen Ereignisse des Tages in gestochen feiner Schrift in seinem Tagebuch festzuhalten. Meist ging es darin um den Stand seiner Befindlichkeit, die Menüfolge des Mittagessens und - hin und wieder - die Schulleistungen seiner Töchter.

 

An jedem Wochentag stand um Punkt 12 Uhr das Mittagessen auf dem Tisch der Wohnküche, Suppe, Hauptgericht, Nachtisch. Danach legte sich Papá für eine Stunde Schlaf ins Bett. Gestärkt durch die Mahlzeit und erholt durch den Schlaf ging er dann wieder für weitere fünf Stunden Arbeit über den Hof in die Fabrik. Das war die schönste Stunde des Tages für Lotti. Beide hatten ihre Pflicht erledigt - Lotti hatte die Schule und die Hausaufgaben hinter sich gebracht, Mamá hatte gekocht, ihren Mann bedient und den anschließenden Abwasch erledigt. Nun kam ihre verdiente Ruhepause. Aufseufzend machte Mamá es sich auf dem Küchensofa für ein Mittagsschläfchen bequem und schloß die Arme um ihre Tochter, die sich glücklich auf ihre Mutter legte. Wohlig gab Lotti sich der mütterlichen Wärme hin, genoß die weichen Rundungen von Mamás Körper unter sich und erzitterte unter den Wonnen ihrer streichelnden Hände. Lotti hatte ein goldige Mamá, ganz goldig.

In der Wohnküche fühlte sie sich sicher, denn Mamá war immer da. Sie schlief auch in Mamás Bett bis sie 15 Jahre war. Täglich brachte Mamá sie zur Schule und holte sie wieder ab. Bis zum Abschluß der zehnten Klasse. Ausflüge zum Kolonialwaren-, zum Milchhändler oder auf den Wochenmarkt machte sie nur mit Mamá. Noch mit 18 Jahren wagte sie sich nur in Begleitung von Mamá auf die Straße. „Sie hat alles für mich getan,“ sagte Lotti noch in hohem Alter. „Ich hatte eine goldige Mamá, ganz goldig,“.

Am Nachmittag ging sie vor dem Küchenfenster spielen. Ihre Wohnung war die einzige auf dem großen Fabrikgelände, und die kleine Lotti hatte ein wunderbares Spielfeld. Zumindest am Sonntag, wenn die Fabrik ausgestorben war, die Loren stillstanden und ihr als kreischendes und schnell sausendes Spielgerät dienten.

Gern wäre Lotti so gewesen wie die Nachbarskinder, denen sie hin und wieder begegnete, wenn Mamá einen kleine Schwatz mit der Nachbarin hielt. Aber Lotti versteckte sich hinter dem Rücken ihrer Mutter, hielt sich fest an ihrem Rockzipfel und weinte, wenn sie der Nachbarin das Händchen geben wollte. „Du bist ein gräßliches Braatschkind“, teilte Mamá dann ihrer jüngsten Tochter mit und zog  ihre flennende Tochter mit einen umwilligen Ruck hinter ihrem Rücken hervor. „Schau doch, wie fein Erna das schöne Händchen gibt.“

Mamá war eine kinderliebe Frau und zeigte deutlich ihre tiefe Bewunderung für Nachbars Kinder. Insbesondere hatte es Lottis Mutter eine Familie mit gleichaltriger Tochter angetan.

„Oooh, ein feiner Mann.... ein feiner Mann“, skandierte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit, reckte Achtung heischend den Zeigefinger, hob die Augenbrauen und rollte dabei die Augen himmelwärts. „Immer mit einer frischen Blume im Knopfloch.“ Das war der Vater.

„Und  Frau  Herben ist so streng mit ihrer Kleinen, oooh... sooo streng.“ Und ihre Augen kehrten zurück auf die Erde, schuldbewußt. Sie biß sich auf die Unterlippe, griff abwesend an die Schürze, strich sie glatt mit schlechtem Gewissen. „Wie sie das Christinchen schlägt.... jeden Tag.... grün und blau geschlagen ist das Mädchen immer. Aber sooo lieb, so lieb....Immer: Mama hier und Mama da. Kann ich dir eine Tasse Kaffee machen.... und: Kann ich dir eine Decke holen. Ich habe es selbst schon oft erlebt..... die ist wirklich fein erzogen.“

Noch zwei Generationen später sprach Lotti nur mit respektvoller Hochachtung von ihrer Mutter. Mißbilligend wandte sie ihre Augen ab von den Kindern ihrer Nichten, die „braatschten“ oder gar heftig nach irgendetwas verlangten. Für solches Benehmen zeigte sie nur bitterböse Verachtung. Da war - ihrer Meinung nach - etwas ganz und gar schiefgelaufen.

 „Das muß man der Mamá lassen,“ sagte sie in sehnsuchtsvoller Überzeugung. „Ihr wäre das nicht passiert. Sie wußte, daß man gerade mit kleinen Kindern anders umgeht: Man muß Kindern den Willen brechen - jawohl ! “

Sicher war Mamá das bei Helene, der Ältesten, gut gelungen. Sie war brav und folgsam, lernte gut in der Schule, machte Abitur und studierte. „Sie ist ein stiever Bock,“ sagte Mamá von ihr. Dann freute sich Lotti. Aber eigentlich war Helene eine Randexistenz in Lottis Leben, die hin und wieder unvermutet auftauchte, um ihr den gehaßten Krauskopf zu kämmen, oder aufzupassen, daß sie ihren Teller mit Rübchen leeraß, und die ihr abends befahl, sich die Ohren zu waschen, wenn Mamá schon an der Nähmaschine saß, mit der Herstellung der Garderobe für die Familie beschäftigt.




© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Lesen Sie bis zum Muttertag am 10. Mai jeweils sonntags die weiteren Folgen von Birgit Bayers Erzählung
Redaktion: Frank Becker