Im Reich der Mitte

Eine Erzählung

von Friederike Zelesko

Foto © Frank Becker
Im Reich der Mitte
 

Herr O. ist jemand, der in seiner Sprache wohnt. Er schreibt seine Gedanken auf. Seine Sicht auf die Dinge. Oft versteht er das Geschriebene ebenso wenig wie die chinesischen Kalligrafien, für die er eine Schwäche hat.
 
Es ist ein heißer Sommertag. Herr O. bestellt ein kaltes Bier, eine Frühlingsrolle, Chop Suey mit gebratenem Hühnerfleisch und zum Nachtisch Lychees. Die Farbe der Lycheefrüchte erinnert ihn immer an ein kühles, blasses Seidenkleid.
 
Die Klimaanlage im China Restaurant trocknet langsam sein erhitztes Gesicht. Getönte Fensterscheiben dämpfen die grellen Sommerfarben des Straßenbilds. Chinesisches Personal mengt sich in den Spiegeln, die in den vier Himmelsrichtungen an den Wänden hängen, unter die Glasschliffbilder regloser Flamingos. Fla-min-go. Ein fremd klingendes Wort, ein Wort das der Fantasie Flügel verleiht. Herr O. sitzt im Reich der Mitte des Herrschers Yen, der das Sommerland besichtigt.
 
Das Restaurant ist gut besucht. Jemand sagt, er habe Geburtstag. Spontane Glückwünsche, dann Applaus. In den chinesischen Vasen verbeugen sich rosafarbene Nelkenköpfe. Die Flamingos stehen mit ihren langen Beinen im unbeweglichen Wasser der Spiegelseen. Es ist, als würden sie bei diesem unerwarteten Applaus erschrocken die glasgeschliffenen, starren Flügel lüften.
 
Herr O. ist in einem Alter, das längst alles verzeiht. Seine früher oft unüberlegten Entscheidungen, die ihm bis jetzt noch ihre überlegenen Auswirkungen zeigen, hat er als Schicksal angenommen. Manchmal hat er Angst vor dem Alleinsein, davor, daß ihm die Zeit wegläuft, oder noch schlimmer, daß er verstummt.  Herr O. hat Angst vor einem stummen Blatt Papier. Indem er schreibt,  bekennt er sich zu seinem Denken. Oft erschrickt er, wenn sich etwas in seinem Wesen unbewußt offenbart. Wenn etwas zu seiner Zufriedenheit gelingt, wird es Poesie.
 
Der Herrscher Yen kocht selbst. Sobald das Öl im Wok rauchheiß ist, gibt er sorgfältig geschnittenes Gemüse hinein, das er mit schnellem Wenden und Rühren in wenigen Minuten brät. Die Poren schließen sich sofort. Aroma, Vitamine und Mineralien bleiben erhalten. Für gleichmäßiges Garen ist es wichtig, alle Zutaten in akkurat gleich große Stücke zu schneiden, sagt der Herrscher. Er verwende ein speziell scharfes Messer und ein massives Holzbrett. Das Fleisch schneide er quer zur Faser, so werde es beim Garen schneller weich und schmelze im Mund. Der Herrscher liebt das Pfannenbraten und das Rotkochen. Obwohl er viele Verwandte hat, kocht er lieber selbst. Er vertraut in dieser Kunst  niemandem. Er beherrscht die vier großen Küchen Chinas. Peking, die kaiserliche Tradition, Shanghai, die Küche des Luxus, Szechuan, das Reich der Würze, und Kanton, der siebente Himmel aller Genüsse.
 
Der Herrscher Yen empfiehlt Herrn O. seine Bestellung abzuändern. Er breitet vor ihm die Genüsse der vier chinesischen Küchen aus. Eine verschwenderische Vielfalt von frischen Zutaten, wie die verschiedensten Gemüsesorten, tropische Früchte und Pilze. Er serviert schließlich Dim Sum, zweifach gekochtes Hühnerfleisch, knusprig gebratene Shrimps, eine Scharf-Sauer-Suppe, Aal in Öl und Tausendjährige Eier und natürlich Chili, der heiß nach Sommer brennt. Das chinesische Gedeck besteht aus einer Reisschale, dem Unterteller, Eßstäbchen, Porzellanlöffel und vielen Schälchen für Suppen und Saucen.
 
Der Herrscher Yen zeigt Herrn O. wie man mit Stäbchen ißt. Ein Stäbchen mit dem oberen Drittel, dem dicken Ende, legt man in die Höhlung zwischen Daumen und Zeigefinger. Der untere Teil ruht auf der Innenseite des Ringfingers. Das zweite Stäbchen legt man zwischen Mittelfinger und Zeigefinger und drückt mit der Daumenkuppe dagegen, etwa so, wie man einen Bleistift hält. Dabei müssen die Spitzen beider Stäbchen übereinander liegen. Beim Essen liegt das untere Stäbchen fest in der Hand, das obere bewegt man in Richtung des unteren und faßt den Bissen.
 
Herr O. ist verblüfft. Noch nie hat ihn jemand so genau angeleitet, wie man mit Stäbchen ißt. Als das Wort Bleistift fällt, ist alles klar. Herr O. benutzt immer Bleistifte, berührt sie zärtlich beim Schreiben. Er verbraucht sie bis zum Stummel, der schließlich in seiner Schreibhand verschwindet. Seine Zärtlichkeit richtet sich nun auf die Stäbchen und die ergänzenden Kräfte von Yin und Yang, die die Speisen des Herrschers in der Zusammenstellung begleiten, das Süß und Sauer, das Scharf und Mild, das Fest und Weich, führen jeden Bissen geschickt zum Mund. Je länger Herr O. ißt, desto langsamer läuft die Klimaanlage. Manchmal hört das Surren ganz auf. Dann hört er, wie die Flamingos ihre langen Beine heben und durch die Spiegelseen waten. Kleine Ringe bilden sich auf dem Wasser und werden immer größer. Sie haken sich ineinander bis sie sich, wie durch Zaubertrick, wieder voneinander lösen.
 
Herr O. ist mittlerweile beim Nachtisch angelangt. Mandelgelee mit Lycheefrüchten. Die Lychees läßt er sich nicht nehmen. Das Gelee ist stichfest und mehrmals eingeschnitten. Lychees liegen in den Schnittwunden, die nach Bittermandel riechen. Die Farbe der Früchte erinnert ihn immer noch an das kühle, blasse Seidenkleid.
 
Der Herrscher Yen zieht sich ganz plötzlich zurück. Er verbeugt sich höflich und spricht kein Wort. Das Personal, das seine Verwandtschaft beim gemeinsamen Essen an einem gesonderten Tisch unter Beweis stellt, glättet die Tischdecken und räumt das blauweiße Drachenporzellan ab. Herr O. verlangt die Rechnung. Sie  wird ihm in einem Lackkästchen gebracht. Als er das Kästchen öffnet, findet er ein leeres Blatt Papier.
 
 
© Friederike Zelesko – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009