...zum Sterben schön!

Christoph Eschenbach & Orchestre de Paris zelebrieren in Essen Mahlers 9.

von Peter Bilsing
Musik zum Sterben schön…
 
- "Wouldn't you die without Mahler?" (Trish in Willy Russels „Educating Rita“) -

Christoph Eschenbach & Orchestre de Paris
zelebrieren Mahlers 9.
 
Philharmonie Essen am 25.2.
 
Die Sinfonien Gustav Mahlers sind seit Eröffnung der Essener Philharmonie im Jahre 2004 fester Bestandteil des vielfältigen und preisgekrönten Programmangebots des erst geschaßten und dann als quasi „Reserve-Intendant ohne Aufgaben“ zwangsweise wieder eingestellten Intendanten Michael Kaufmann. Neben dem Mahler-Zyklus, der inzwischen als „absoluter Mahler-Geheimtip“ gehandelten Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane, stehen meist noch andere Mahler-Abende dem interessierten Besucher offen. Von einem der ganz Großen ist zu berichten.
 
Nach dem Riesenerfolg des Orchestre de Paris mit seinem phänomenalen Dirigenten Christoph Eschenbach im Alfried Krupp Saal in den Jahren 2005 und 2006 ist dieses famose Orchester erneut in die Essener Philharmonie eingeladen. Der spürbare Qualitätsschub des vergleichsweise jungen Orchesters (gegründet 1967), welches immerhin von Größen, wie Karajan, Solti, Barenboim, Bychkov und Dohnanyi geprägt wurde, dürfte nicht zuletzt seinem jetzigen Chefdirigenten Christoph Eschenbach zu verdanken sein, der sich schon seit einigen Jahren als hervorragender Orchestererzieher mit erkennbarer Neigung zu neuer Musik profiliert hat. So folgen auch die Programme der Musiker nicht den üblichen Kurkonzertschemata des ewig Gleichen, Bekannten und unvermeidlich wiederkehrenden: Beethoven, Brahms, Dvorak und Co., sondern man bietet auch Außergewöhnliches und Interessantes, wie z. B. neben vielen anderen auch mal Widor, Dutilleux, Roussel und eben jetzt Gustav Mahler.
 
Eschenbach benötigt Zeit, seine Interpretation subsumiert beinahe 100 Minuten, wo Bruno Walter es schon einmal in 85 geschafft hat. Daß extreme Länge Spannung und Lebendigkeit nicht ausschließen, wie z. B. (pars pro toto) bei Maazel, zeigte die intensive und hochmotivierte Auseinandersetzung des Klangkörpers mit dem diffizilen Werk. Ähnlich wie bei Sloane oder Lenny Bernstein ist Eschenbachs Zugriff auf das zutiefst berührende Monumentalwerk von frappierender und unmittelbarer Direktheit. Das ist kein weichgespülter Mahler à la Wiener Philharmoniker, sondern ein Mahler, der sich seiner Kantigkeit, seiner Ecken und schrillen Nebentöne nicht schämen muß. Der Sprung in die Moderne zur Atonalität eines Arnold Schönbergs leibt unverhüllt.
 
Zum ersten Satz schrieb einmal Alban Berg: „Dieser Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam.“ Ich persönlich würde diese weisen Worte eher für den Schlußsatz verwenden, einem Adagio von so emotionaler Innigkeit und Schönheit, wie es niemals wieder jemand komponiert hat. Willem Mengelberg schrieb in die Partitur: „Mahlers Lebenslied. Mahlers Seele singt ihren Abschied! Er singt sein ganzes Inneres. Seine Seele singt – singt – zum letzten Abschied: Leb wohl! Sein Leben, so voll und reich ist jetzt bald beendigt…“ Musik zum Sterben schön. Und es war nicht nur der geniale Bernstein, der hier immer feuchte Augen bekam, auch in der Philharmonie blieb bei einer sich so wunderbar in die tiefste Seele des Menschen bohrenden Musik kaum ein Auge trocken. Überhaupt gab es ein tolles und fachkundiges, praktisch hustenfreies, Publikum gestern im Essener Prachtsaal, welches dieses bravouröse Werk natürlich mit stellenweise angehaltenem Atem konzentriert verfolgte.
 
Der Schlußbeifall nach einer fast halbminütigen Finalpause war ungeheuerlich. Die stehend gegebenen Ovationen endlich (!!!) einmal wirklich berechtigt. Mit lauten „Bravi“ wurden nachdrücklich auch die exzellenten Musiker gewürdigt. Was für ein Orchester! Was für ein mal wieder hinreißender Abend!

Redaktion: Frank Becker