Sprachlos komisch (8)

Bildergeschichten ohne Worte - von Adamson bis Ziggy

von Joachim Klinger

Jochim Klinger © Joachim Klinger
Sprachlos komisch (8)

Bildergeschichten ohne Worte
- von Adamson bis Ziggy -


Der Franzose Jean-Jacques Sempé (*1932), einer der besten unter den großen Cartoonisten, hat ein so umfangreiches Œuvre geschaffen, daß man mit Recht auch wortlose Bildergeschichten darin vermuten darf. Und in der Tat wird man rasch fündig, ohne allerdings eine durchgängige Comic­-Figur zu entdecken, also ein Sempé-Original, das uns mit seinen Erlebnissen erfreut.

Aber die in Comic-Strips handelnden Personen sind natürlich Sempé-Typen: reizende Kinder, die mit
 
© Diogenes Verlag 1960
unschuldigem Gesichtsausdruck die Erwachsenen in
peinliche Schwierigkeiten bringen, permanent besorgte Mütter / Hausfrau­en, gestresste Väter, betriebsame Geschäftsleute, die abends im Bistro sitzen usw. Sempé ist ein hervorragender Beobachter, sein Blick ebenso scharf wie liebevoll. In dieser schrecklichen Welt, in diesen unwirtlichen Städten mit dem rasenden Verkehr finden Sempés Geschöpfe immer noch ein gemütliches und friedliches Plätzchen. Auch die Großen - Politiker, Ma­nager, Magnaten, Millionäre - haben wie alle etwas Kleinbürgerliches und sehnen sich im Grunde ihres Herzens nach dem kleinen Glück: einen Balkon mit Blumen, einen stillen Garten, einen bequemen Platz im Cafe usw. Selbst die schlampigsten Frauen verlieren ihren Charme nicht ganz, selbst die griesgrämigsten Chefs lächeln gelöst hinter ihrem Glas Rotwein. Ganz un­ausstehlich und bösartig ist niemand. Zu jeder Schwäche und Schattenseite läßt sich eine Stärke und sympathische Seite finden. Hier zeigt sich nicht nur die positive Lebenseinstellung Sempés, sondern auch französische Mentalität. Und ohne Zweifel hat das Allgemein-Menschliche in seinen Cartoons und Comics auch etwas typisch Französisches.
 
Das bißchen Glück

Wir alle sind auf der Suche nach dem "bißchen Glück", wir alle plagen uns mit kleinen

© Diogenes Verlag 1982
Unzulänglichkeiten und tragen große Sehnsüchte im Herzen. Mit freundlicher Nachsicht hält uns Sempé den Spiegel vor, und wenn wir demü­tig und einsichtig genug sind, erkennen wir uns in seinen Cartoon- und Co­mic-Figuren wieder.
Der kleine Junge, der seinen Vater mit der Spielzeugpistole an den Kopf geschossen hat und daraufhin geohrfeigt wird, beschwört ein Familiendra­ma herauf. Die Mutter ergreift die Partei des Vaters und Ehemannes und haut ihrerseits dem Kleinen eine herunter. Der ruft die im selben Haus wohnenden Großeltern zu Hilfe - mit Erfolg. Die hinzu kommenden weiteren Großeltern greifen in den heftigen Streit ein und brüllen und keifen, bis die Mutter plötzlich weint. Betroffenheit und Besinnung bei allen Erwachsenen. Herzliches Einvernehmen wird hergestellt und soll mit einer Flasche Sekt gefeiert werden. Der kleine Übeltäter betritt das Zimmer - was für ein lie­bes Kerlchen! Da, wieder schießt er mit seinem Spielzeug auf den Vater und trifft ihn. Ende! 22 Zeichnungen - ein familiärer Vorfall, wie er zu passieren pflegt, treffend ins Bild gesetzt.
 
Oder eine Geschichte, die nur wenigen Menschen widerfährt. Ein schiff­brüchiges Ehepaar auf einer einsamen Insel gerät in Streit. Sie schnürt ihr Bündel und läuft davon. Er grinst und setzt sich zum

© Diogenes Verlag 1968
Angeln. Sie muß ja wiederkommen! Muß sie nicht! Schließlich macht sich der Mann auf den Weg und sieht, auf der anderen Inselseite angelangt, einen Dampfer davon­fahren. Sie ist weg und gerettet, hat nicht gesagt, dass es noch einen wei­teren Schiffbrüchigen auf der Insel gibt...
Oder: Drei Bilder zum Ende einer Ehe. Man blickt auf ein Fenster und sieht Gegenstände durch die Luft fliegen - Ehestreit. 2. Bild: Sie stürmt mit Ge­päck aus dem Haus. 3. Bild: Blick auf ein Fenster, ein Sektkorken fliegt.
Mir gefällt am besten die stille Herbstgeschichte, die fast ohne Menschen auskommt. Am Baum hängt ein letztes Blatt. Es löst sich vom Ast und tru­delt herab. Schwebt über die Mauer in den Garten des Nachbarn. Nicht schlimm, aber doch eine Störung! Eine Hand wirft das Blatt zurück auf das
 
© Diogenes Verlag 1964
Herkunftsterritorium. Ordnung muß sein. Wahrscheinlich ist der Nachbar ein pedantischer Sonderling, der den Rasen an den Rändern mit seiner Na­gelschere kürzt...
 
Sempé praktiziert einen einfachen und offenen Stil. Alles sieht so aus, als sei es spontan mit leichter Hand hingeworfen. Stimmt nicht! Er selbst be­richtet: "Da ich sehr nervös und unruhig bin, fange ich meine Zeichnungen fünfzehn- oder zwanzigmal an, und sehr oft ist die zwanzigste nicht besser als die erste..." Egal! Die Zeichnungen sind meisterhaft. Manche Gestalten erscheinen zeichnerisch unfertig und sind doch künstlerisch vollendet. Das Angedeute­te wird vom Auge ergänzt. Seine "offene" Zeichnung hat eine unglaubliche Lebendigkeit. Hier versteht man den berühmten Satz: "Zeichnen heißt Weglassen." Ich kenne von Sempé nichts Mittelmäßiges oder gar Mißlungenes. Dieser Künstler arbeitet seit rund 50 Jahren. Mit 19 ! Jahren erhielt er seinen ersten Preis: 50.000 Francs. Kein schlechter Start!
 
Loriot

Eine
Erfolgsstory stellt auch das Leben des 1923 als Vicco von Bülow gebo­renen Loriot dar (das
 
© Diogenes Verlag 1983
Wappentier der Bülows ist der Pirol, französisch: Lo
riot). Sein zeichnerisches Œuvre ist umfangreich und zum Teil im Zeichentrick­film (filmische Comics!) präsent. Aber er schreibt auch, führt Regie und ist als Schauspieler ein erstaunlicher Verwandlungskünstler. Das ist noch nicht alles: er ist musikalisch und versteht sich aufs Dirigieren. Also ein echter Tausendsassa!
Ich meine, daß kein deutscher Humorist nach Wilhelm Busch den Men­schen so viel Vergnügen bereitet hat wie Loriot. Die Medien Film und Fern­sehen haben den Erfolg gefördert. Loriots Wirkung beruht auf der Fülle seiner Arbeiten und der Vielfalt seiner künstlerischen Leistungen. Komiker und Komödiant, Karikaturist und Entertainer - viele Berufsbezeichnungen lassen sich diesem Multi-Talent anheften. Er ist unvergleichlich, dem großen Sempe als Zeichner aber keineswegs ebenbürtig.
Loriot hat auch Bildergeschichten produziert, sich aber auf keine Comic-­Figur festgelegt, sehen wir einmal von der im "Sternchen" veröffentlichten Serie "Reinhold das Nashorn" ab. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß in seinen Zeichnungen alle Menschen mit dicker Knollennase und langer vorgestülpter Oberlippe ausgestattet sind und im ganzen eine eher dümmliche Spezies bilden.
 
Von Hunden und Menschen

Das prädestiniert sie zum Beispiel auch, von großen Hunden liebevoll und zugleich besorgt als

© Diogenes Verlag 1954
"Hausmenschen" gehalten, erzogen, verzärtelt und ge­scholten zu werden.
Manche Bildergeschichten Loriots, die auf Sprechblasen zu verzichten pfle­gen, kennen weder Titel noch Textleiste, führen aber mit einem erläutern­ den Satz in die Handlung ein. Sprachlich befleißigt sich Loriot bewußt ei­nes altmodisch steifen Stils, einer Mischung aus unpersönlichem Amts­deutsch, umständlicher Lehrbuchdiktion und ironischer Anspielung.
Beispiel: Ein Nashorn verschluckt eine aufdringliche Zoo-Besucherin, spuckt sie aber - offenbar unzufrieden mit der Qualität des vermuteten Lecker­bissens - wieder aus. Einleitender Kommentar: "Erfahrene Zoologen bestätigen die Annahme, daß gerade plumpe Tiere häufig die feinsten Zungen besitzen."
Weitere Beispiele für eine Geschichte - ganz ohne Worte: Einige behütete Herren werden ihrer Kopfbedeckung durch einen Windstoß beraubt. Alle - bis auf einen - setzen sich in Trab, um die Hüte zurückzuholen. Einer bleibt auf seinem Platz und sieht den Laufenden nach. Sehr weise! Denn der Wind fegt die Bowler zurück, und er muß den Hut nur noch aufheben...
 
F.K. Waechter

Friedrich Karl Waechter (1937-2005), hat sich ebenfalls in vielen Berei­chen betätigt und ist doch primär als Zeichner ein Künstler von hohen Gra­
den. Er schrieb Kinderbücher, verfaßte zusammen mit Robert Gernhardt Drehbücher und produzierte ab 1974 zahlreiche Filme und Theaterstücke.
 
© Diogenes Verlag 1983
Sein lockerer und sicherer Strich, die in ihrem Verlauf nur angedeutete Linie, das skizzenhaft Gelungene im Verbund mit Einfallsreichtum, Tempe­rament und Treffsicherheit im Ausdruck weisen ihn als Meister aus und lassen einige Entgleisungen in der Wortwahl oder den Einsatz bewußt stüm­perhafter Bilder als verzeihliche "Ausrutscher" erscheinen.
 
Waechter hat uns keine Comic-Figur geschenkt, die wir auf ihren Reisen durch Bildfolgen begleiten dürfen. Aber er hat Comics gezeichnet, die zum Teil ganz auf das Wort verzichten und großartig sind. Beispielsweise die Bildergeschichte "Sommerwind", bei der Sempé Pate gestanden haben mag.
Eine Dame möchte sich am Strand im Schutz des Bademantels ihrer Unter­wäsche entledigen und den Badeanzug anlegen - ein schwieriges Unterfan­gen bei Wind. Wie aus der Schamvollen die Hemmungslose wird, wie die keuschen Aktionen des Aus- und Ankleidens umschlagen in skrupellose Ent­hüllung - das ist einfach "Klasse".

Oder die gleichfalls stumme Geschichte "Besuch": Ein fettleibiger Mann hält in seinem Sessel ein Nickerchen. Die Tür öffnet sich, ein wohl im Stra­ßenkampf erfahrender Schläger mit Helm und Schild tritt ein, schleicht
sich heran und ... und tut, was er muß. Schlagen!
Bei den Bildergeschichten mit Worten (Sprechblasen, Erläuterungen, Ver­se) zeigt Waechter, daß er mit der Sprache umgehen kann und über Wortwitz verfügt. Dabei scheut er weder Jargon noch Derbheit im Aus­druck. Die gutbürgerlichen Gefühle von Sitte und Anstand werden bewusst verletzt; der sexuelle Bereich wird meist sehr direkt und auch unverblümt ordinär angesprochen. Daß die Bilder vielfach beste Griffelkunst dokumentieren, versöhnt mit gelegentlichen Geschmacklosigkeiten.
In manchen seiner Cartoons sind blendende Einfälle treffend notiert, bei­spielsweise: Ein mickeriges Hähnchen fliegt mühsam über das Land. Auf seinem Rücken steht eine unförmig dicke Henne.
Unterschrift: "Denk immer daran, daß ich dich unter Schmerzen geboren habe."


Literaturempfehlungen:
Sempé - "Wie sag ich´s meinen Kindern?" - 1960 Diogenes Verlag Zürich
Sempé - "Alles wird komplizierter" - 1974
Diogenes Verlag Zürich
Sempé - "Nichts ist einfach" - 1968 Diogenes Verlag Zürich
Sempé - "Emil ich hab Schiss!" - 1964
Diogenes Verlag Zürich
Loriot - "Möpse & Menschen" - 1983 Diogenes Verlag Zürich
Loriot - "Auf den Hund gekommen" - 1954
Diogenes Verlag Zürich
F.K. Waechter - "Nur nicht den Kopf hängen lassen!" - 1983
Diogenes Verlag Zürich

© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Folgen Sie nächsten Sonntag weiter dem Vater der Geschichten von "Julle und Vatz" bei seinen Betrachtungen über Bildergeschichten, Comics und Cartoons.

Redaktion: Frank Becker