Am Anfang war Blau
Die methodischen Fortschritte der Genetik erlauben es inzwischen, durch genaue Analyse der Unterschiede zwischen den Genen für die farbspezifischen Rhodopsine den Zeitpunkt abzuschätzen, an dem die beteiligten Gene begannen, sich in evolutionären Zeiten auseinanderzuentwickeln. Die Wissenschaft geht bei ihren Überlegungen davon aus, daß es früher in der Geschichte des Lebens einen einzigen Urzapfen gegeben hat, ohne daß man die mit ihm mögliche Farbwahrnehmung zu deuten wüsste. Mit seiner Vorgabe konnten sich im Laufe der Evolution drei Farbempfänger herausbilden, was durch Variationen in dem Gen für das ursprüngliche Rhodopsin irn vermuteten Urzapfen möglich geworden sein muß. Bei den Analysen stellte sich zur allgemeinen Überraschung heraus, daß vor allen anderen ausgerechnet die Fähigkeit entstanden ist, Blau wahrzunehmen. Erst danach setzten die weiteren Aufspaltungen ein, die zu Rot- und Grünempfindlichkeiten führten - wobei all dies vor mehr als 30 Millionen Jahren passiert sein muß. Diese riesige Zahl wird angeführt, um die Länge der evolutionär wichtigen Zeiten wenigstens ahnen zu können.
Natürlich wird man jetzt fragen, was denn der Vorteil der frühen Blauerfahrung gewesen sein könnte. Das evolutionär Sinnvolle der Unterscheidung von Rot und Grün scheint auf den ersten Blick leichter erklärbar zu sein, hilft sie den Lebewesen doch, problemlos die reifen Früchte im Gebüsch zu orten, die sich leichter als Blätter verdauen lassen und deren Verzehr mehr Energie freisetzt, was auf jeden Fall als Vorteil im Überlebenskampf angesehen werden kann. Rötungen auf der Haut infolge von gut durchbluteten Organen sind zudem ein gutes Signal für Empfängnisbereitschaft. Denn ähnlich wichtig wie die Ernährung ist für ein Lebewesen die Fähigkeit, einen Partner für die Erzeugung von Nachwuchs zu finden. Man könnte mit diesen Hinweisen den Eindruck gewinnen, daß Rot als die erste Farbe des Lebens auftritt. Aber wie gesagt: Es ist das Blau, wie den Ergebnissen der Genetik entnommen werden kann, und die keineswegs triviale Frage lautet, ob und wie sich das verstehen und erklären läßt.
In der Literatur trifft man auf eine über das Naturwissenschaftliche hinausgehende Antwort auf die Frage, die mit dem Wort selbst zu tun hat. Hier heißt es, daß der Himmel für normalsichtige Mitteleuropäer, die keine ungewöhnlich auffällige Sprache sprechen, deshalb blau ist, weil sie einen Ausdruck dafür haben, eben «Blau». Nun gibt es Sprachen, die unterschiedliche Wörter für Hell- und Dunkelblau benutzen und also keinen blauen Himmel in der hier beschriebenen Sicht kennen. Er sieht für sie am Mittag anders aus als in der Dämmerung. Es gibt zudem Menschen, die in ihrer Kultur nur über die Farbwörter Schwarz, Weiß und Rot verfügen, und es gibt nicht zuletzt Sprachen, die die beiden Farbtöne Blau und Grün nicht auseinanderhalten und deshalb die genannten Eindrücke wahrscheinlich nur als verschiedene Schattierungen einer Farbnuance wahrnehmen, die man scherzhaft «blün» nennt. Kurioserweise haben die «alten Griechen» die Farben nicht so genau unterschieden, wie es heute geschieht. Homer, der Dichter der Ilias und der Odyssee, hat das Meer, das von Urlaubern in diesen Tagen selbstverständlich als blau beschrieben wird, mit einem anderen Wort bezeichnet, das so etwas wie «weindunkel» meint, wie aus aktuellen Übersetzungswerkstätten zu erfahren ist.
Diese Überlegung erlaubt eine nicht in der Biochemie steckenbleibende Antwort auf die Frage, warum die Evolution Menschen zuerst die mit «blau» bezeichnete Wahrnehmung mit auf den Lebensweg gegeben hat. Die Blautöne könnten frühen Exemplaren der Spezies Homo sapiens geholfen haben, sich besser in der hereinbrechenden Dunkelheit zu orientieren, also in der Zeitspanne des vergehenden Tages, die den Menschen auch als «Blaue Stunde›› vertraut ist. Sie wird in literarischen Werken nicht nur gerne mit Melancholie in Verbindung gebracht, sondern auch als der Zeitraum geschildert, in der einsame Spaziergänger gefährdet sind. Das intensive Blau des Himmels, das in diesen Minuten viel dunkler als seine strahlende Variante am Tage erscheint, benötigt eine andere Erklärung als die der Rayleigh-Streuung, die oben für die Farbe des Himmelszelts zur Mittagszeit gegeben worden ist.
Die Wissenschaft führt die Farbe der blauen Dämmerstunden auf die Wirkung des Ozons zurück, das sich in Luftschichten befindet und Licht im gelben, orangenen und roten Bereich des Spektrums absorbieren kann. Erstmals beschrieben hat das um 1800 der französische Chemiker James Chappuis - ohne daß sich damals jemand dafür interessierte. Erst 1952 hat der amerikanische Physiker Edward Hulburt gemerkt, daß im Verlauf der Dämmerung der Weg des Lichts durch die Erdatmosphäre derart stark abnimmt, daß die Rayleigh-Streuung jede Bedeutung für die Erklärung der Blaufärbung verliert und stattdessen die vom Ozon bewirkte Chappuis-Absorption die Regie übernimmt. Dieser Mechanismus scheint nicht weit bekannt zu sein. Hulburt selbst hat so etwas geahnt und geschrieben:
Der nichtsahnende Beobachter, der während eines Sonnenuntergangs auf dem Rücken
liegend in den klaren Himmel schaut, sieht nur, daß der Himmel über ihm, der vor dem
Sonnenuntergang blau war, dasselbe leuchtende Blau beibehält, während die Sonne
untergeht und es anschließend während der Dämmerung immer dunkler wird. Er ist sich
nicht bewußt, daß die Natur, um dieses anscheinend so selbstverständliche und
naheliegende Ergebnis zu produzieren, recht großzügig ganz tief in die optische Trickkiste
gegriffen hat.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
|