Literarische Eintritts-Billets

„Wunder Italiens“ – eine kleine Anthologie

von Frank Becker

Ein kalabrisches Huhn
 
… und weitere literarische Eintritts-Billets für Italien
 
„Sie schimpfen auf die allgemeine Unfähigkeit und lamentieren darüber,
dass nichts funktioniert. Schuld an allem sind die anderen, vorneweg
die Regierung. Wer den Tiraden jedoch genau zuhört, begreift:
Die Italiener lieben ihr Land wirklich.“

Es ist eine kleine, delikate Anthologie der Italienliebe, besser gesagt, der (gelegentlichen Haß-) Liebe der Italiener zu ihrem vielfältigen Land, das sich ja erst seit dem vorläufigen Ende des Risorgimento 1861 so nennt. So verschieden die Landschaften und Menschen zwischen dem Piemont und Sizilien, Venetien, Kalabrien und Apulien auch sein mögen, so unterschiedlich die Charaktere der Menschen in Rom und Palermo, Turin und Brindisi, Palermo und Venedig, eins eint sie: Italiener zu sein – ein jeder auf seine eigene Art. Sie lieben ihre Gebräuche und Gewohnheiten, wie es Giacomo Leopardi im Prolog schreibt, und zwar in großer Freiheit des öffentlichen Geistes. Sind Italiener egoistisch? Vielleicht. Aber auf jeden Fall Individuen.
 
Mit kurzen, gelegentlich streiflichtartigen Intermezzi, Texten, Auszügen aus oft bekannten Werken der neueren italienischen Literatur versucht Susanne Schüssler diesen freiheitlichen Geist, den Stolz und die Heimatliebe der Italiener zu umreißen, fühlbar zu machen. Ein unwiderstehliches Beispiel, das ich Ihnen hier in ganzer „Länge“ vorstelle, ist Luigi Malerbas:

 
Ein kalabrisches Huhn

»Ein kalabresisches Huhn beschloß, Mitglied der Mafia zu werden. Es ging zu einem Mafia-Minister, um ein Empfehlungsschreiben zu bekommen, aber dieser sagte ihm, die Mafia existiere nicht. Es ging zu einem Mafia-Richter, aber auch dieser sagte ihm, die Mafia existiere nicht. Schließlich ging es zu einem Mafia-Bürgermeister, und auch dieser sagte ihm, die Mafia existiere nicht. So kehrte das Huhn in den Hühnerhof zurück, und auf die Fragen seiner Mithühner antwortete es, die Mafia existiere nicht. Da dachten alle Hühner, es sei ein Mitglied der Mafia geworden, und fürchteten sich vor ihm.«
 
Pier Paolo Pasolini zeigt in „Der pfeifende Bäckerjunge“ den sozialen Stolz der einfachen Leute des alten Italien und beklagt in „Von den Glühwürmchen“ die Verschmutzung der Luft und des Wassers seiner Heimat. Raffaele La Capira erzählt bilderreich in „Die Neapolitaner“ vom neapolitanischen Plebs, Natalia Ginzburg in „Die kaputten Schuhe“ von der stolz getragenen Not kleiner Leuste und Carlo Emilio Gadda widmet sich in „Urväterrisotto. Rezeptur“ der Zubereitung eines der italienischen Nationalgerichte (bloß keinen Fehler machen!).
Dieses kleine Büchlein im Sedez-Format, wahrlich ein Taschenbuch zum Mitnehmen im reinsten Sinne kann als Einstieg in die Literatur Italiens von Herzen empfohlen werden.
Es enthält Liebeserklärungen und Schmähungen, Erinnerungen und Hoffnungen von Giacomo Leopardi, Andrea Camilleri, Umberto Eco, Natalia Ginzburg, Francesca Melandri, Elsa Morante, Alberto Moravia, Michela Murgia, Pier Paolo Pasolini, Tiziano Scarpa, Luigi Malerba, Carlo Emilio Gadda, Giorgio Manganelli, Italo Svevo, Mario Soldati, Giorgio Bassani und anderen.
 
„Wunder Italiens“ – eine kleine Anthologie
Herausgeber: Susanne Schüssler
Serie: Quartbuch
© 2024 Verlag Klaus Wagenbach, 80 Seiten, gebunden 9,3 x 14,5 cm - ISBN-13: 9783803133724
10,- €
 
Weitere Informationen: www.wagenbach.de