Das Geheimnis der Strohwitwer

von Julius Stettenheim

Das Geheimnis der Strohwitwer
 
Es ist nun einmal Stil, von einer toten Saison zu sprechen. Aber der Berliner toten Saison geht es wie allen Totgesagten, sie pflegen sich ganz munter darüber den Kopf zu zerbrechen, wer denn eigentlich das trostlose Gerücht von ihrem Ableben in die Welt gesetzt hat. Der Fremde, welcher Während der toten Saison nach Berlin kommt und sich hier in den Strudel stürzt, muß` sich die Frage vorlegen: Wie mag Berlin nun erst in der lebendigen Saison sein? Diese Frage ist dahin zu beantworten, daß Berlin in der lebendigen Saison noch lebendiger ist als in der toten, weil das Totsein der Saison nichts mehr als eine Redensart ist. Die andere Frage: Ist eine Stadt, die keine tote Saison hat, Weltstadt? Oder die weitere: Kann eine Weltstadt ohne tote Saison existieren?, vermag ich nicht zu beantworten. Tatsache ist, daß London, Paris und Wien einer toten Saison sich erfreuen, Berlin aber sich gänzlich ohne tote Saison behilft.   
     Es ist dies auch durchaus kein Geheimnis mehr. Nur hat man von gewisser Seite her mit
Erfolg sich bemüht, dies Geheimnis vor jeglicher Enthüllung sorgsam zu bewahren. Männer; auf deren Worte man etwas gibt und deren Einfluß ein mächtiger ist, hatten und haben ein starkes Interesse daran, die Fabel von einer Berliner toten Saison aufrechtzuerhalten und sie vor jedem Dementi zu schützen. Sie treten jedem Versuch, die Wahrheit hierüber zu verbreiten, mit lebhafte: Energie entgegen und unterdrücken sie, wo sie sie laut werden hören. Ich habe einen Barbier gekannt, der im Frühjahr seiner Kundschaft beim Einseifen die schlimmsten Nachrichten über das Wetter ibeibrachte, auch wenn der herrlichste Sonnenschein die Erde anlächelte. Dieser Barbier ließ den Frühling nicht auf« kommen. So gibt es in Berlin eine Anzahl von Männern, die die Saison als tot verschreien, so lebendig sie immer sein mag. 
     Diese Männer sind die Strohwitwer. Ihnen verdankt die flotteste Saison des Jahres das allgemein verbreitete Gerücht, sie sei tot. 
     Wie man bei jedem Vergehen fragt: „Oui est la femme?“, so muß man auch bei dem vorliegenden diese Frage aufwerfen. Sie ist in diesem Falle rascher als sonst beantwortet. Die Frau ist verreist, sie ist in irgendeinem Bade, und sie ist daselbst in dem beruhigenden Bewußtsein, daß der Mann, den sie zurückgelassen, sich in einer Stadt aufhält, welche tot, eine Art Pompeji ist, wo er höchstens eine Sehnsucht nach der entfernten Gattin und Familie empfindet, da er sonst nichts zu seiner Zerstreuung zu unternehmen weiß. In jedem Brief, den sie von ihrem Gatten erhält, wird sie in diesem sie selig machenden Glauben bestärkt, denn sie erhält darin immer eine neue Schilderung von dem unerträglichen Zustand Berlins, das in den Banden der toten Saison liege, unbeweglich, starr, eine weltstädtische Mumie, eine mumifizierte Weltstadt. Die Hausfrau und Mutter der Kinder liest dies mit den Ausdrücken des tiefsten Bedauerns, das sie ihrem armen Gatten widmet, freilich auch mit einer gewissen Befriedigung, denn es beruhigt sie doch, daß der Gatte still und zurückgezogen dahinlebt, bis sie mit dem Ende der toten Saison Wieder in seine Arme zurückkehrt. 
     Die Zahl der betrogenen Gattinnen ist in dieser Zeit unberechenbar und erreicht so ziemlich die Ziffer der abwesenden Frauen. Sie ist so groß, daß man ohne weiteres den Strohwitwer als den Schöpfer alles Lebens, das in der „toten“ Saison herrscht, bezeichnen kann. Er ist überall, er läßt keine Minute ungenutzt vorübergegen, und er spielt daher in den     
Berechnungen aller öffentlichen Veranstaltungen Während der toten Saison eine so hervorragende Rolle, daß man annehmen kann, diese Veranstaltungen würden nicht in Szene gesetzt werden, wenn Berlin keine Strohwitwer hätte.   
     Und diese Überzeugung übt einen mächtigen Eindruck auf das öffentliche Leben aus. Überall macht derselbe sich geltend. jedes Etablissement lockt die Zahl der Strohwitwer mit irgendeinem bunten Flitter, der deren Neugierde oder Unterhaltungssucht anregt oder erweckt. Auf den lieben Strohwitwer verläßt sich alles, alles, was von abends sieben Uhr an in Berlin auf muntere Gäste wartet; die Anschlagsäulen rufen, und alle, alle kommen, und wenn die Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist, in der sogenannten toten Saison teilen die Könige diese Tugend mit den Strohwitwern.   
     Man werfe einen Blick in die Vergnügungsanzeiger, auf die Säulen, auf die Zettel, die uns auf der Straße in die Hand gesteckt werden, auf die Fahnen der Reklamereiter. Werden dem Berliner Publikum, das Zerstreuung und Augenweide sucht, im Herbst und Winter mehr Magnete in den Weg gelegt als jetzt? Man muß vielmehr eingestehen, daß das, was man sonst tote Saison nannte, die lebendigste des Jahres ist. Menschenfresser und Alpenveilchen, eine Elefantenherde und Wiener Volkssänger, Luftschiffer und Ausstellungen, italienische Nächte und Volksfeste, die erst am frühen Morgen ihr geräuschvolles Dasein enden, Massenmusik und Seiltanz, Erde-, Wasser-, Luft- und Feuerwerk aller Art wiederholen sich täglich in dem felsenfesten Vertrauen auf die Strohwitwerlegion, welche augenblicklich in Berlin ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Es ist enorm, was der Strohwitwer in seinen Briefen an die Gattin zu verheimlichen hat, um in derselben den Glauben an die Berliner tote Saison aufrechtzuerhalten oder zu erneuern. 
Manchem mag es unpassend erscheinen, daß ich das Geheimnis der Strohwitwer enthüllt und den Gattinnen einen Blick hinter den Schleier dieses Bildes von Sais ermöglicht habe. Man beruhige sich. Die Beredsamkeit der Strohwitwer ist äußerst geschult, und ihr wird es mit leichter Mühe gelingen, meine Darstellung als eine ganz gewöhnliche Zeitungsente zu kennzeichnen und in Mißkredit zu bringen.