Zum Anfang
Ein Narr vermag mehr Fragen zu stellen, als sieben Weise beantworten können, heißt es in einem Sprichwort: Es drückt mit diesen Worten eine vertraute Erfahrung aus. Der „Jüngling-Mann“, den Heine wehmütig am Wüsten Meer auftreten läßt, müßte wirklich ein Narr sein, wenn er meint, es gebe erhellende oder gar erlösende Antworten auf die großen Fragen, die er in die Dunkelheit hineinbrüllt. Wer soll denn verbindlich sagen können, was das ist, dieser Mensch, der da zum Himmel aufschaut und etwas über die Sterne wissen will? Selbst der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, hat dazu lieber Fragen formuliert. Wer weiß denn zuverlässig, woher dieses grübelnde, rätselhafte, neugierige und kopflastige Lebewesen auf zwei Beinen im Laufe einer evolutionären Entwicklung gekommen ist und wohin es an seinem unvermeidlichen Ende gehen will und kann? Und wer traut sich, dem Narren zu gestehen, daß nach der Antwort noch immer gesucht wird?
In der Literatur zirkuliert ein namenloses Gedicht mit einer jahrhundertealten Vorgeschichte, in dem die nächtlichen Fragen von Heines Jüngling in den ersten drei Zeilen persönlich gewendet werden, bevor die Verse einen Dreh ins Lebensernste nehmen und den Gemütszustand von einem vielleicht ahnungs-, aber nicht hoffnungslosen Menschen in Frage stellen. Das Gedicht lautet so?
Ich komme, ich weiß nicht, von wo?
Ich bin, ich weiß nicht, was?
Ich fahre, ich weiß nicht, wohin?
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin.
Früher wurde diese gefällige Fröhlichkeit in Kirchenkreisen genutzt, um einem hohen Herrn im Himmel für dieses Glücksgefühl zu danken. Doch heute möchte man nüchterner und säkularer orientiert verstehen, warum manche Menschen sich gerade dann freuen, wenn sie vor offenen Fragen oder rätselhaften Erscheinungen in der Natur stehen und sich wundern können.
Urknall mit Ursachen
Fröhlich und freudig erregt - in dieser Stimmung befand sich der junge Albert Einstein, nachdem er Kants Erkundigungen nach den Anfängen von Raum und Zeit im frühen 20. Jahrhundert aufgenommen hatte, um sie den Philosophen zu entziehen und ihnen mit den Mitteln der Naturwissenschaft eine besondere Wendung zu geben. Einstein konnte aus den zwei Fragen der Philosophie eine der Physik machen. Er vermochte zu zeigen, daß Menschen nicht in einem (absoluten, also abgelöst gedachten) Raum leben, durch den unabhängig die (ebenfalls für absolut gehaltene) Zeit fließt, wie von Isaac Newton vorgeschlagen und von Kant philosophisch abgesegnet worden war. Einstein konnte vielmehr demonstrieren, daß das kosmische Zuhause der Erdenbürger eine relative Raumzeit ist, die dem Kosmos vier Dimensionen verleiht - drei für den Raum und eine für die Zeit. Man kann fragen, wie Einstein auf diese Idee gekommen ist und wie die Stimmigkeit seiner Überlegungen bewiesen werden konnte; dieses Buch wird dazu Auskunft geben.
Eine erstaunliche Konsequenz aus der für die Anschauung unzugänglich bleibenden Raumzeit besteht darin, daß sich mit ihrer Hilfe etwas über den Anfang der Welt sagen läßt, und zwar etwas überraschend Einfaches nach all den Komplikationen zuvor. Für diesen Anfang am Beginn der Zeit kann die Wissenschaft nämlich nach Einsteins Vorgaben einen Ausgangspunkt - wörtlich aufgefaßt - angeben und benennen. Sie bezeichnet ihn als „Singularität“; im Volksmund wird er „Urknall“ genannt, wobei dieser populäre Ausdruck das hübsche englische Original „Big Bang“ übersetzt. Allerdings: Der britische Physiker Fred Hoyle, auf den der Ausdruck „Big Bang“ zurückgeht, wollte mit seinem Wortspiel anzeigen, wie albern er so eine knallige Vorstellung fand. Auf Deutsch könnte man seine Haltung mit „Riesen Rumps“ ausdrücken, wenn man sowohl die Alliteration als auch den Witz retten will.
Was auch immer beim Big Bang passiert ist, beim Betrachten des dazu nötigen physikalischen Geschehens fallen den Beteiligten aus der Wissenschaft vor allem ungeklärte und unerklärte Abläufe etwa bei den Umwandlungen der Energien ein, die sich unentwegt vollziehen müssen und nie zum Ende kommen. Es gibt namhafte Physiker, die bei aller Attraktivität und Popularität eines Urknalls skeptisch bleiben, die allmählich an dem ganzen Szenarium zweifeln und sich nicht scheuen, Heines Narr auftreten und ihn sagen zu lassen: Wer die Welt mit einem Knall beginnen läßt, der hat selbst einen. Jedes Entstehen von Raum und Zeit - und auch von Materie - bleibt bei allen Fortschritten der Physik geheimnisvoll, und genau das sorgt für das, was Einstein an der Wissenschaft gefällt und ihm Freude bereitet. Sokrates und Kant können klagen, solange sie wollen.
Einstein hat für sich etwas anderes erfahren; er weiß: „Das Schönste, was wir [die Menschen] erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von Wahrer Kunst und Wissenschaft steht.“ Und weil das so ist, wundert sich Einstein nicht, daß er fröhlich ist, wenn er die Dinge zu verstehen versucht und über sie nachdenkt. Er wundert sich vielmehr über Menschen, „die sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen“ können.
Wer sich in der Geschichte der Physik umsehen konnte, hat sicher von dem schönen Satz gehört, den der große Isaac Newton geschrieben hat, nachdem er auf die Ideen gekommen war, die sich in den Bewegungsgleichungen zeigen, die heute in den Schul- und Lehrbüchern stehen. Mit Newtons Gesetzen zeigten sich Menschen erstmals in der Lage, das Umlaufen von Planeten am Himmel präzise zu verstehen. Aber der berühmte Mann blieb bescheiden. Newton meinte nach seinem historischen Erfolg, er komme sich vor wie ein kleiner Junge, der am Strand eine Muschel findet und sich darüber ausgelassen freut, während er zugleich den Ozean vor Augen hat und damit weiß, daß er in seiner enormen Ausdehnung und Tiefe noch unerforscht vor ihm liegt und die Neugierde nicht zur Ruhe kommen läßt. Das Geheimnisvolle zu spüren, wird auch hier zu dem Schönen, das einen Menschen fröhlich werden läßt. Vielleicht gehen Menschen deshalb so gerne am Strand spazieren. Mit dem Blick auf die Wellen und den Horizont ahnen sie etwas von der Unendlichkeit, die in der Welt mit ihren Geheimnissen steckt und sie anlockt.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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