„I don’t want the truth, - I want fantasy“

Heinrich Steinfest – „Sprung ins Leere“

von Johannes Vesper

„I don’t want the truth, - I want fantasy“
 
Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere
 
Dieser Zukunftstroman spielt im Jahre 2025 und beginnt damit, daß die 31jährige Klara Ingold den Nachlaß ihrer 1957 verschwundenen Großmutter sichtet, der zufällig in der hintersten Ecke des Lagers einer Gerüstbaufirma entdeckt worden war. Da fanden sich zahllose Utensilien, Malereien, Zeichnungen, Fotografien. Bei der Schilderung all des Gerümpels fällt zum ersten Mal die umfassende sprachliche Souveränität des Autors, seine wortgewaltige Phantasie und Lust am Fabulieren auf. Es fand sich auch ein von der Großmutter Helga Blume signiertes Foto mit dem Titel: „Sprung ins Leere“. Es zeigte eine Frau, die vom Balkon eines 1. Stockes auf die menschenleere Straße springt, und zwar in der gleichen Haltung wie Yves Klein, der 3 Jahre später bei gleichem Sprung fotografiert worden ist („Le Saut Dans le Vide“ (Der Sprung ins Leere). Sein Bild wurde sehr berühmt. Ist Yves Klein etwa ein Plagiator? Wer weiß.
 
Klara arbeitet als Wärterin im Kunsthistorischen Museum in Wien, lernt sehr überraschend Georg kennen, den Mann, den sie täglich vor Jacob Ruisdaels „Der große Wald“ stehen sieht. Er hatte eigentlich einen Roman schreiben wolle, dessen 1. Satz sehr ernst lautete: „Sex mit mir ist eine Katastrophe“. Das wird nicht jeder von sich sagen wollen. Er wurde dann aber doch lieber Konditoreiverkäufer, rettete Klara zweimal sehr kaltblütig das Leben und wurde zu ihrem Begleiter, die nach eigenem Verständnis asexuell veranlagt war. Sie bekam nun mit einem gewissen Aufwand heraus, daß das Nachlaßfoto der fliegenden Großmutter im Luisenviertel Wuppertals, der Stadt mit „märchenhafter Anmutung“ und faszinierender Schwebebahn, aufgenommen worden ist. Sie fuhr sofort ins Tal der Wupper, dort mit einem 24-Stundenticket Schwebebahn hin und zurück von Vohwinkel bis Oberbarmen, bei welchem Stadtteil sie immer wider „Erbarmen“ assoziierte, und überlebte im Traum sogar den berühmten Schwebebahnunfall, bei dem die Bahn in die Wupper gefallen war. Daß es Wuppertaler gibt, die „In der Hölle“ wohnen, erklärt nicht die bemerkenswerte, „für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Höflichkeit“ der Wuppertaler. Daß die Großmutter mit ihrer Freundin von dort vor fast 70 Jahren mysteriös wie plötzlich verschwand, liefert dem Roman den Handlungsstrang.
 
Bei der Nähe Klaras und des Autors zur Kunst ist es kein Zufall, daß Bildbeschreibungen und Kunstbetrachtungen eine große Rolle in diesem Roman spielen. Nicht nur der Wald Ruisdaels im von der Heydt-Museum, wo sie eine weitere große Waldlandschaft von Jacob Ruisdael hätte ansehen und mit der Wiener vergleichen können.
Wiederum auf einer Fotografie mit Großmutter und Freundin vor einem Plakat mit Birgit Bardot identifizierte Klara japanische Schriftzeichen und sogar die japanische Stadt, in welcher das Plakat einst hing. Kurz, jetzt nimmt die Geschichte weiter Fahrt auf. Klara fährt mit Georg für eine Woche nach Japan, um die verschwundene Großmutter und deren Freundin zu suchen
 
In Japan erlebt Klara unendlich viel, werden Attentate auf sie verübt, bekommt sie vom berühmtesten japanischen Regisseur eine Filmrolle angeboten und einen Leibwächter gestellt, damit sie nach eines Tages erfolgreicher Suche der inzwischen uralten Großmutter den Dreh auch noch lebend mitmachen kann. Brillanz und Fantasie feierten einen Triumph nach dem anderen z.B. bei der ungeheuerlichen Beschreibung menschlich-männlicher Sumo-Fleischberge oder japanischer Frauen, die trotz „fragiler, jedoch gepolsterter Schlankheit, keineswegs mager, in ihrer gewissen Molligkeit“ durchaus gefestigt wirken. Die brillante Schilderung der japanischen Toilette mit allen denkbaren technischen Raffinessen zeigt uns Europäer als unterentwickelte Hygieneschweine auf unterster Stufe; und die der japanischen Küche mit ihren anregenden, würzigen Gerüchen verbrannten Lebens aktivieren beim Leser sofort die Geschmacksnerven aller Falten und Oberflächen jedes Pharynx. Auch in Japan wird sprachgewaltig über Bilder nachgedacht und dadurch am Ende die Handlung vorangetrieben. Bei einem Museumsbesuch erkennt Klara ihre Großmutter als blinde Köchin auf einem Gemälde, dessen Beschreibung sich ausweitet zu einer Geschichte japanischer Messerschmiedekunst auf der südlich Tokyos einsam im Pazifik liegenden Vulkaninsel Aogoshima. Die Stadt Tokyo erlebt Klara als die „verdichtete Form Wuppertals“.
Tatsächlich scheint Tokyos Schnellbahn zu schweben, wobei die alte bergische Schwebebahn aber im Gegensatz zu Tokyo eine Zukunft spiegelt, die in der Vergangenheit liegt. Der Inhalt der Erzählung soll hier nicht weiter vorab verraten werden. Die Handlung schwappt vorübergehend wieder nach Österreich (Semmering), wo Klara ihre Großmutter tatsächlich als blinde Köchin in einem Altenheim trifft. Jetzt kann Klara zurück nach Japan, den Film drehen und selbst ins Leere stürzen.

Kunst- oder Kriminalroman? Fantasy? Oder gar Thriller? Gegen Ende auch Sciencefiction, wenn eine Zeitmaschine für Unruhe sorgt, jedenfall reines Lesevergnügen. Locker, differenziert geschrieben, wird sich der Leser in dem komplexen Roman auch auf unerwartete, zunächst abwegig erscheinende Linien und Parallelitäten der Erzählung amüsiert einlassen. King Kong auf dem kleinen Plakat, welches Klara in Magome entdeckte, hat schon lange vor Heinrich Steinfest das Motto für diesen literarischen Sprung in die Vollen ausgegeben: „I dont want the the truth, I want fantasy“. 
Sehr empfehlenswert und der Autor wird erneut mit unserem Musenkuß ausgezeichnet.
 
Heinrich Steinfest erhielt literarische Auszeichnungen u.a. den Heimito von Doderer-Literaturpreis, mehrfach den Deutschen Krimipreis, landete 2014 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Geboren in Australien, wuchs er in Wien auf und lebt heute in der Nähe von Heidelberg und beschäftigt sich auch mit Malerei und Fotografie.
 
Heinrich Steinfest – „Sprung ins Leere“
Roman
© 2024 Piper Verlag GmbH, München, 493 Seiten, gebundenes Buch - ISBN 978-3-492-07215-1
24,-€
 
Weitere Informationen: www.piper.de