Unvollendet - Vollendet

Das Sinfonieorchester Wuppertal versucht sich an Mahlers unvollendeter Zehnter und glänzt mit Dvořáks großartiger Siebenter

von Frank Becker
Antonin Dvořák
Unvollendet - Vollendet

Das Sinfonieorchester Wuppertal unter seinem GMD
Toshiyuki Kamioka zeigte künstlerische Perfektion bei
Dvořáks in jeder Hinsicht vollendeter 7. Sinfonie -
doch Unsicherheiten bei Mahlers unvollendeter Zehnter

Schon der Aufmarsch des Orchesters und das Stimmen der Instrumente hatte den Hauch des Besonderen. Draußen verteilte Hustenbonbons und aufgehängte Schilder wiesen darauf hin, was im zum zweiten Mal ausverkauften Saal durch die aufgestellten Mikrophone offenbar wurde: Das Konzert mit Werken von Gustav Mahler, Franz Schubert und Antonin Dvořák wurde gleichzeitig im Rundfunk übertragen.

Zarter Auftakt - brutal kartätscht

Einen zarteren Auftakt als den des als einziger Satz durch Mahler fertiggestellten Adagio seiner 10. Sinfonie Fis-Dur wird man wohl kaum irgendwo in der Literatur finden. Schon hier ließ der Verlust ahnen, den die Musik durch die Nichtvollendung der Sinfonie permanent erleidet, wenn auch dem einsamen Satz noch eine gewisse Reife abgeht. Wie schön hätten sich die zwanzig Minuten vor den offenen Mikrphonen des WDR entwickeln können, hätten nicht allen Hinweisen zum Trotz auch hier wieder in den fragilsten Momenten brutale Hustensalven der üblichen Konzertbanausen erbarmungsloses Sperrfeuer kartätscht. Ich behaupte, das minderte die Konzentration der Künstler so erheblich, daß es zu gewissen Unsicherheiten kam, die den guten Eindruck verwässerten. Dennoch führte Toshiyuki Kamioka das zerbrechliche Schifflein sicher durch die Klippen der Komposition und steuerte es unter den geblähten Segeln des schimmernden Blechs und der tief beseelten Streicher einem relativ sicheren Hafen entgegen. Doch knapp vor der Einfahrt in den schützenden Port mußte es doch unter anhaltenden Breitseiten einer einzelnen Husterin scheitern. Ein Jammer!

Weit reifer zeigten sich die gleich im Anschluß gegebenen zwei Sätze aus Franz Schuberts ebenfalls

Franz Schubert
unvollendet gebliebener Sinfonie Nr. 7 h-Moll D 759. Klangvoll und wehrhaft gegen die Attacken aus der nämlichen Richtung konnten sich das Allegro Moderato und das Andante con moto voluminös durchsetzen. Man bekam ein zurechtgerücktes Bild von der Orchesterleistung, die hier wie bei der überwiegenden Zahl der von Kamioka geleiteten Konzerte überzeugte. Der Glanz der beiden Sätze ließ gleichermaßen Wehmut über die fehlenden aufkommen, wenn die vorhandenen auch durchaus in ihrer Vollendung bestehen können. Das führte auch zur Bekanntheit und Beliebtheit ihrer ins Ohr gehenden Themen, die nahezu als Gassenhauer im Gedächtnis bleiben. Die Wuppertaler Sinfoniker bestachen hier mit praller Lebensfreude und üppigem Volumen.

Das Beste nach der Pause

Wer in der Pause gegangen war - ich sah einige, die ihren Mantel holten und nach Hause strebten, vielleicht um weiteren röchelnden Konzertmördern zu entgehen - versäumte das Beste dieses ereignisreichen Abends: Antonin
Dvořáks Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70. Als rolle man als Ouvertüre einen prächtigen Bilderbogen zur Illustration eines Bühnenstückes aus, hob sich der 1. Satz seiner Bezeichnung gerecht "Allegro maestoso" prachtvoll aus den geschlossenen Reihen des Orchesters. Spätestens von diesem Augenblick an war man versucht, sich mit geschlossenen Augen zurückzulehnen und nichts weiter zu tun als zuzuhören und vor dem inneren Auge Bilder wirken zu lassen. Man hat Dvořák nach der Uraufführung vorgeworfen, seine Siebte klänge aus geschäftlichen Rücksichten "anders" als die vorhergehenden. Doch wenn eben nicht jeder Hit eines Popstars gleich klingt - und Antonín Dvořák war ein Popstar - ist das ein Kompliment. Der 2. Satz "Poco adagio" wurde vom Sinfonieorchester Wuppertal atemberaubend brillant umgesetzt, lyrisch und zart, gewaltig und bombastisch - von feinstem Gefühl und jubelnder Größe. Tänzerisch in Musik und Dirigat zeigte sich das elegante "Scherzo (Vivace)" des dritten Satzes, dem - hier unterstreiche ich nachdrücklich eine Bemerkung des Programmheftes - in Wagnerscher Dramatik das "Finale: Allegro" folgte, in dem Schlagzeuger Daniel Häker Gewaltiges leistete und der Maestro am Pult in einem virtuosen Kraftakt zu eine Größe von wenigstens 1,90 m zu wachsen schien. Beeindruckend, begeisternd und mit allem Recht der Welt lang anhaltend bejubelt. Was für ein Erlebnis! Der Musenkuß für diesen Dvořák!