Wieder ein Musical-Hit am „German Broadway“

"La cage aux folles" in Gelsenkirchen

von Peter Bilsing
„La cage aux folles“ –
Wieder ein Musical-Hit am
„German Broadway“ in Gelsenkirchen




Musik und Songtexte von Jerry Herman
- Buch von Harvey Fierstein, UA 1973
Songs in englischer Sprache mit Übertiteln, Dialoge in deutscher Sprache
Premiere 22. November 2008, Musiktheater im Revier, Großes Haus


Musikalische Leitung: Bernhard Stengel  -  Inszenierung: Peter Hailer  -  Bühne: Dirk Becker  -  Kostüme: Andreas Meyer  -  Choreinstudierung: Christian Jeub  -  Dramaturgie: Wolfgang Willaschek  -  Choreographie: James de Groot/Paul Kribbe  -  Fotos: Pedro Malinowski

Besetzung:
Albin/Zaza: William Saetre  -  George: Joachim G. Maass  -  Jacob: Aljoscha Zinflou  -  Monsieur Dindon: Wolf-Rüdiger Klimm  -  Madame Dindon: Sabina Detmer  -  Jean Michel: Piotr Prochera  -  Anne Dindon: Elisabeth Karner  -  Jacqueline: Birgit Brusselmans  -  Mercedes: Richetta Manager  -  Chantal: Mathias Schiemann -Renee, der Mann mit der Frauenstimme, Hannah aus Hamburg: Patrick Stauf  -  Liza Pirelli, Lola Horn, Monsieur Renaud: Jerzy Kwik  -  Madame Renaud: Patricia Pallmer
Cagelles: Evgeny Gorbachev, Kostyantyn Grynyuk, Min-hung Hsieh, Bogdan Khvoynitskiy, Takashi Kondo, Yun Liao


Ein Erfolg mit Geschichte

Der durch immerhin 70 Kino- und Fernsehproduktionen bekannte große französische Theater- und Filmschauspieler und bekannte Chabrol-Akteur Jean Poiret brachte im Jahr 1973 eines der

Foto © Pedro Malinowski
erfolgreichsten französischen Theaterstücke, basierend auf seinem Buch auf die Bretter des Pariser „Palais Royal“: „La cage aux folles“ (Ein Käfig voller Narren). Nach über sieben Jahren zählte die Statistik annähernd 2500 Aufführungen. Die zwischenzeitliche Verfilmung von 1978 mit Ugo Tognazzi und Michel Serrault (der die Rolle der Zaza auch an vielen Theaterabenden gespielt hatte) war ein Riesenerfolg – nicht nur in Frankreich. Den blöden zweiten Teil („Noch ein Käfig voller Narren“ von 1985) vergessen wir geflissentlich. Das amerikanische Remake von 1996 mit Robin Williams ist eine Unverschämtheit.
 
1983 erschien endlich die Musical-Version am Broadway. Da kein geringerer als Jerry Herman (u.v.a. „Milk and Honey“, „Hello Dolly“, „Mame“) für Texte und die Musik verantwortlich zeichnete (Buch: Harvey Fierstein), war der Welterfolg abzusehen. Die UA fand 1983 im Palace Theatre in New York statt. Annähernd 2000 Aufführungen und sechs Tony Awards waren verdienter Lohn und Anerkennung; DE im Oktober 1984 im Berliner Theater des Westens. Das „Musiktheater im Revier“ (MiR) hat in Gelsenkirchen einen guten Ruf zu verteidigen („Broadway im Kohlenpott“) und viele waren gespannt, ob es diesen unter der neuen Intendanz von Michael Schulz behalten würde. Allen Unkenrufen (vor allem von uns Kritikern) zum Trotz kann auch diesmal wieder eine bemerkenswerte Produktion attestiert werden. Nicht nur die Choreografie von James de Groot und Paul Kribbe hatte absolutes Broadway-Niveau.
 
Dreamteam in Gelsenkirchen

Nun hatte man mit William Saetre & Joachim G. Maaß allerdings auch schlichtweg das Dreamteam

Am Pier - Foto © Pedro Malinowski
für die Hauptrollen gefunden. Der Souveränität beider als Darsteller steht ein enormes Stimmpotential gegenüber, das voll und in jeder Nuance rückhaltlos ausgeschöpft wird. Allein die Schwierigkeit, als Mann so zu singen, wie eine Frau, die einen Mann singt, (was für ein Ansatz!) überzeugte bravourös. Ich habe selten jemanden so perfekt besetzt in diesen Rollen gehört. Mir persönlich gefällt Saetre an vielen Stellen darstellerisch sogar noch besser als Serrault, der im Film allzu oft und zuviel in Weinerlichkeit verfällt. Der Gelsenkirchener Sänger zeichnet ein noch differenzierteres feinsinniges Bild. Und seine sanglichen Fähigkeiten haben wir ja in „Platée“ schon ausgiebig würdigen können. Auch diesmal wieder eine Paraderolle, die der große Künstler mit herzergreifender Empathie und übergroßem Einsatz füllt. Schauen Sie sich nur das tolle Bild auf dem kostenlosen Programmheft an! Oscar für die Maskenbildner – Peter Pavlas & sein Team.
 
Da sind alle Herzen der Zuschauer bei ihm, wenn er nach seinem Streit wieder mit dem Lebenspartner am Pier (hinreißendes Bühnenbild von Dirk Becker!) zusammentrifft und er von Joachim G. Maaß (Georges) zartfühlend, wie ein kleines Kind zum „Song am Strand“ im Arm gehalten wird. Gerade diese schwierige Szene ist brillant gelungen, wie alles in dieser überzeugenden Inszenierung von Peter Hailer; nie kitschig, klischeehaft oder allzu rührselig. Maaß beherrscht die deutsche Sprache nuancenreich überzeugend und wäre auch in jedem anspruchsvollen Schauspiel einsetzbar; doch gerade die Rolle des Showmoderators – worin er ja auch in „Candide“ reüssieren konnte - hat etwas an sinnlicher Reife und feinsinnigem Diktionsvermögen, das man auf heutigen Bühnen nur noch selten findet. Und auch als väterlicher Liebhaber und Charmeur kommt er dem begnadeten Tognazzi erfreulich nahe.
 
Tiefgang und Menschlichkeit

Im Unterschied zum damals geradezu revolutionären Theaterstück und Film – die Zeit war reif für

Richetta Manager - Foto © Pedro Malinowski
solch eine bezaubernde Homosexuellen-Komödie mit Tiefgang und Menschlichkeit – nahm man für die Musical-Fassung und aus dramaturgischen Gründen doch einiges an Schärfe heraus. Eine der ganz bösen Stellen etwa, wenn Eduard am Telefon erfährt, daß der Minister seiner erzkonservativen Partei eben im Bett einer Prostituierten gestorben ist, dann war das Poiret noch nicht genug: sukzessive erfährt man, daß es auch noch eine Farbige war… und (der finale Kinnhaken!) minderjährig!! Bumm. Das wäre sicherlich zuviel für ein Musical-Publikum gewesen, welches sich mit diesem „heiklen“ Thema ja nur behutsam anzufreunden imstande zeigte. Die herrliche Musik von Jerry Hermann – am MiR mitreißend umgesetzt von Bernhard Stengel und ausgesuchten Mitgliedern der Neuen Philharmonie – allerdings machte es allen leichter.
Top-Hits, wie „I am, what I am“, „The best of times“ oder „With you in my arms“ wurden später von vielen Stars nachgesungen. Da stört es wenig, wenn auch Gloria Gaynors Welthit „I will survive“ zusätzlich eingebaut wird, mit dem die „Grand old Dame des MiR“ (Barbesitzerin Jaqueline) Richetta Manager zur Soul-Queen des Abends aufsteigt. Ein Idealbeispiel für die hohe und allumfassend musikalische Qualität der Produktion. „Wann kommen die ersten Angebote aus der Schallplattenbranche?“ muß man nach diesem Auftritt fragen. Schade, daß es Tamla Motwon Records nicht mehr gibt.
 
Perfekte Ausstattung

Neben dem herausragenden, sich in ständigem Perspektivwechsel befindenden oben bereits angesprochenen Bühnenbild von Dirk Becker und einer sehr angenehmen, bildästhetisch passenden

Carmen - Das Original! - Foto © Pedro Malinowski
Lichtregie von Helmut Justus müssen natürlich die traumhaften Kostüme von Andreas Meyer gewürdigt werden. Was für ein Lederlook mit seinen diversen Anspielungen und Variationen, ob Batman, SM-Szene oder andere; Andreas Meyer bringt sogar das traditionelle Step-Outfit noch unter diesen Hut. Daneben zaubert er aber auch Einzelstücke vom Feinsten für die Solisten; Zazas Glitter-Kleid mit einem Orkan von Nerz, oder der Sissy-Look von Renée und Mercedes, das gewichtige Carmen-Monster – gelungene Reminiszenzen an große Opernhäuser und Show-Biz-Ereignisse. Man kann sich kaum satt sehen. Der Leser mag mir mein vielleicht nicht nachvollziehbares subtiles Grinsen vergeben, aber ich habe an der Wiener Staatsoper schon mehr als eine ernsthaft gemeinte „Carmen“ gesehen, die leibhaftig und ohne gewollte Ironie so ausstaffiert war wie Mathias Schieman…
 
Man kann sie nicht alle einzeln loben, diese bezaubernden Cagelles in ihren herrlich differenzierten Kostümen und Rollen. Ich bin wahrlich nicht schwul, aber der knackige Hintern der 2-Meter-Domina „Hannah aus Hamburg“, dargestellt von Patrick Stauf, ist umwerfend. Herrliche Typen, wie Liza Pirelli (Martin Hirner) oder Chantal (Renee, der Mann mit der Frauenstimme – Anmerkung: Und was für eine!) stehen für die vielen anderen, wobei jeder für sich der Superstar einer eigenen Travestie-Show sein könnte. Ungeheuere Qualität und Lichterglanz im gesamten Ensemble. Das überzeugt nachhaltig und führte beim begeisterten Publikum zu stehenden Ovationen.
 
Der "Opernfreund" sagt: Herausragend!

William Saetre als Zaza 
Foto © Pedro Malinowski


Daß jetzt schon die dritte Produktion am MiR in Folge dermaßen gut ist, ist dem Kritiker beinahe unheimlich - wenn es nicht so schön wäre. Wann haben wir solche Programmqualität in den letzten Jahren an irgendeinem NRW-Haus erlebt. Da muß ich lange zurückdenken. Ich setze damit das Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen) auf Platz Nr. 1 in NRWs vielseitiger Opernlandschaft zwischen Rhein und Weser; erster „Opernfreund“-Favorit auf den Titel „Opernhaus des Landes“. Das muß auch Anerkennung für die Unterstützung durch die Stadtoberen sein, wenn man unter so harten Bedingungen (Arbeitslosenquote bei fast 20 Prozent) noch so herausragendes Theater für die Bürger anbietet. Gleiches gilt auch für ein wohlwollendes Publikum, das über die Jahrzehnte diesem, seinem Haus so nachhaltig die Treue gehalten hat.



Weitere Informationen unter: www.musiktheater-im-revier.de


Besprochen wurde die Aufführung vom 29.11.2008