Regierung streicht Betäubungsgeld für Kleinkinder

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker
Regierung streicht Betäubungsgeld für Kleinkinder
 

„Nun nehmen sie uns auch noch das“, höre ich leidgeprüfte Eltern klagen. „Zuerst streicht die Regierung unseren Kindern das Essen, die Kindergartenplätze und die Zukunft und jetzt...“ Halt, liebe Eltern, macht Euch keine Sorgen, es ist ja gar nicht wahr, die Hiobsbotschaft ist reine Erfindung – ich habe nur zu einer List gegriffen, um Leserinnen und Leser zu ködern, denn in Wirklichkeit handelt dieser Text wieder von meiner musikalischen Laufbahn. Bitte, schön aufpassen!

In den Neunzehnhundertsiebziger Jahren, als manches (vor allem die Welt) besser war als heute, war ich ganz dem musikalischen Experiment ergeben und sann auf Wege, damit meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ideal erschien mir eine Festanstellung, wenn ich auch keine Ahnung hatte, wie so etwas zu verwirklichen wäre. Ich sagte mir: „Mit Geduld und Glück wird es schon werden“, und wartete auf meine Chance.
Da, wo ich damals wohnte, waren die Sommerabende vom eingängig-melodischen Gebimmel eines Eiswagens erfüllt, der unermüdlich durch die Straßen des Viertels fuhr und Kunden anlockte. Diese Musik wurde auf elektroakustische Weise erzeugt, entweder kam sie vom Band, oder irgend eine andere, mir unbekannte technische Vorrichtung an dem Gefährt brachte sie hervor. Zunächst klang das Konservengeklingel vollkommen gewöhnlich, mit der Zeit aber änderte sich das. Mir fiel eines Abends auf, daß die Melodie nicht mehr stimmte. Einige Töne fehlten, und die übriggebliebenen gerieten mehr und mehr in eine falsche Reihenfolge. Vermutlich war die Ursache ein Defekt, welcher jedoch von seinem Besitzer nicht behoben wurde. Ich war fasziniert von den zunehmend irren Tonreihen, die da tagtäglich in die Gegend posaunt wurden. Sobald ich hörte, daß sich der Eiswagen näherte, nahm ich mein Aufnahmegerät in Betrieb und hielt das Mikrophon aus dem Fenster. Die ursprüngliche Melodie war bald nicht mehr zu erkennen, fast jeden Tag gab es eine neue wilde Variante. Es klang wirklich zum Verrücktwerden. Während die auf Tonband gespeicherte Ausbeute zu meiner großen Freude immer reicher wurde, wunderte ich mich gleichwohl unablässig über die Dauerhaftigkeit des akustischen Phänomens. Es war doch nicht zu begreifen, daß der Eismann, mutmaßlich ein Mensch mit bodenständiger Weltanschauung, nichts dagegen unternahm. Störte es ihn nicht? Wie konnte es mit seinem höchstwahrscheinlich kaum an der musikalischen Avantgarde geschulten ästhetischen Empfinden harmonieren? Machte er sich keine Gedanken darüber, wie das wahnwitzige Gebimmel auf die mehrheitlich gewiß auch eher konservativ gesinnte Kundschaft wirken mußte? War er so indolent, so unmusikalisch? Wie auch immer, mir konnte es nur recht sein. Innerhalb weniger Wochen gewann ich eine stattliche Sammlung, die ich intensiv studierte und analysierte. Ich schnitt die einzelnen Bandaufnahmen taktgenau hintereinander, so daß sie ein zusammenhängendes Musikstück bildeten. Dieses lernte ich dann auswendig und bewarb mich damit als festangestellter Flötist bei einem mobilen Altwarenhändler – mit Erfolg, wie ich sagen darf. Seither erschallen meine hochkomplexen Flötentöne in den Straßen.   



© Eugen Egner - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008