Gescheites Scheitern mit Nobelpreis (2)

Über Max Delbrück, den Wegbereiter der Molekularbiologie

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Gescheites Scheitern mit Nobelpreis (2)
 
Über Max Delbrück, den Wegbereiter der Molekularbiologie
Herbst 2021
 
Von Ernst Peter Fischer
 
„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei.
Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Samuel Beckett
 
Der Rückzug aus der Genetik

Wer nach tieferen Gründen für Delbrücks plötzlichen Rückzug aus der Molekulargenetik Schritt sucht, wird auf eine dialektisch anmutende Form des Scheiterns treffen. Sie ergibt sich aus dem Hinweis, daß Delbrücks Forschungsziel bei der Erkundung der Gene nicht darin lag, einen überschaubaren (biochemischen) Mechanismus für die Vererbung von Zellen zu finden. Er wollte eher das Gegenteil und hoffte darauf, beim Eindringen in den Zellkern die Erfahrung wiederholen zu können, die Physiker wie Rutherford in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beim Auffinden von Atomkernen machen konnten. Deren Existenz konnten physikalische Experimente zwar nachweisen, aber ihr Vorhandensein ließ sich nicht mit der ansonsten triumphal wirkenden Physik des 19. Jahrhunderts vereinbaren.[1]
Rutherfords Versuche ließen unübersehbar das Scheitern der klassischen Physik erkennen, und Delbrück wollte Vergleichbares erreichen und wie der Neuseeländer mit wohl bedachten und klar zu deutenden Experimenten eine Grenze für das klassische Denken – diesmal nicht für die Atome, sondern für die Zellen – ausfindig machen. 1953 gewann Delbrück im Angesicht der Doppelhelix den Eindruck, die Fragen der Vererbung ließen sich von nun an in einem mechanischen Rahmen mit biochemischen Modellen klären, und das wollte er anderen überlassen. Ihm selbst erschien es langweilig. Also ließ Delbrück 1953 die Gene links liegen und zog auf das Feld der Sinneswahrnehmung in der Hoffnung um, hier sein konzeptionelles Glück im experimentellen Unglück finden zu können. [2] Als Objekt wählte Delbrück einen kleinen Pilz mit Namen Phycomyces,[3] und indem dessen Nennung jetzt vor allem Stirnrunzeln hervorruft, zeigt sich unmittelbar, daß dieses Projekt gescheitert ist. Delbrück hat das selbst so gesehen und am Ende seines Lebens eingestanden, er sei „sick at heart at the unsolved state of the problem“[4], wobei er konkret die von ihm jahrzehntelang untersuchte scheinbar einfache Frage im Auge hatte, auf welches Signal aus der Umwelt der Pilz reagiert, wenn er in der Nähe eines Hindernisses aufwächst und es ihm gelingt, ihm auszuweichen. „Avoidance response“ – Vermeidungsreaktion oder Ausweichverhalten – so nennen die Physiologen diese Fähigkeit von Organismen, an Gegenständen vorbei zu kommen oder um sie herum zu wachsen, und die schlichte Frage, an deren Antwort Delbrück bis zuletzt gescheitert ist, lautete: Mit Hilfe welcher Signale nimmt Phycomyces wahr oder bemerkt der Pilz, daß er auf eine Wand zuwächst und ihr besser ausweichen sollte, wenn er ins Offene will, um dort Platz für sich und seine Sporen zu finden, mit denen sich die Nachfahren bilden können?
 
Anpassungen

Als Delbrück den Pilz wählte, entschied er sich gegen das damals vorherrschende Untersuchungsobjekt der Sinnesphysiologie, nämlich das Auge. Zwar hoffte er, daß die klassische Denkweise auch hier irgendwann scheitern müsse, deren theoretische Grundlage in der Idee einer (linearen) Signalumwandlungskette bestand – Delbrück konnte sich nicht vorstellen, daß der Weg vom physikalischen Signal, das ins Auge gelangt, bis zum bewußten Sehen lückenlos durch mechanische Umwandlungen zu beschreiben sein könnte –, aber ihm schien, daß ein Einzeller wie Phycomyces eher die Stelle aufspüren ließ, an der ein neues Denken nötig wurde, wie es die Existenz von Quanten in der Physik mit sich gebracht hat. Delbrück lockte vor allem die Fähigkeit zur Adaptation, mit der Organe und Organismen sich den jeweiligen Bedingungen in ihrem Umfeld anzupassen vermögen. Delbrück begeisterte dabei eine Besonderheit von Phycomyces, deren Analyse ihm die Chance zu bieten schien, Bohrs Ideen zu „Licht und Leben“ umzusetzen.  
Die auffälligste Reaktion des Pilzes besteht darin, auf eine Lichtquelle zuzuwachsen. Man spricht vom Phototropismus, und wenn die Strahlen aus einer Richtung kommen, wächst Phycomyces permanent dorthin. Was biologisch sinnvoll ist, wirkt rätselhaft, wenn man den Pilz von zwei gegenüberliegenden Seiten anleuchtet. Er wächst zunächst schneller – man spricht von einer Lichtwachstumsreaktion –, um sich bald der Helligkeit anzupassen und zur alten Rate zurückzufinden. Die Frage lautet, wie die tropische Reaktion diese Adaptation umgeht und permanent auf die Lichtquelle zuwachsen kann, die in der Natur eine Lichtung wäre und anzeigt, wo günstiger Lebensraum zu finden ist. Die Antwort ergibt sich daraus, daß Phycomyces nicht gradlinig in die Höhe wächst, sich vielmehr im Kreis dreht und dabei dem Licht immer einen anderen – noch nicht angepaßten – Teil seiner Zellwand zuwendet und so dauerhaft ins Offene streben kann. Delbrück faszinierte diese Fähigkeit eines Pilzes, der noch weitere Überraschungen für den bereit hielt, der sich im Detail auf ihn einließ, aber trotz jahrzehntelangen Bemühens ist Phycomyces nicht der Phage der Sinnesphysiologie geworden, wo wie es der Phage zum Wasserstoffatom der Vererbung geschafft hat.   
Beim Nachdenken über die Frage, wie Delbrück an einem so kleinen Pilz mit einer einfachen Frage scheitern konnte, fällt mir ein Gespräch mit Barbara McClintock (1902-1992) ein. Die große alte Dame der Genetik meinte, „he fools him“, Phycomyces hält den Professor zum Narren. Man braucht „a feeling for the organism“, wenn man Leben verstehen will, und darf aus den Organismen keine Objekte einer Begierde machen, die sich berechnen lassen.[5]
 
Die Idee der Verschränkung

Heute kann man ruhig sagen, daß Delbrücks Versuche, die Anfänge der Wahrnehmung mit Hilfe von Phycomyces zu verstehen, insgesamt gescheitert und vergessen sind. Kann man daraus lernen? Delbrück hat sich unter anderem für den Pilz entschieden, weil das ganze Leben, das sich da vor einem aufrichtet, reagiert und wächst, aus einer Zelle besteht. Auf den ersten Blick leuchtet die Idee ein, mit einer solchen Vorgabe müsse sich leichter erfassen lassen, wie Licht seine Wirkung im Leben erzielt, als etwa durch Untersuchungen im Auge, wo unterschiedlichste Zellen koordiniert miteinander und mit wechselnden Molekülformen agieren müssen, um die Signale der auf der Netzhaut empfangenen physikalischen Strahlen erst in biochemische Reaktionen und dann in nervöse Signale umzuwandeln. In dem Pilz läuft alles in einem scheinbar überschaubaren zellulären Raum ab, und in ihm sollte man doch die einzelnen Komponenten der vermuteten Signalumwandlungskette durch biochemische Analysen ausfindig machen und Einblick in die sinnlichen Reaktionen gewinnen können, wie nicht nur Delbrück meinte und probierte (wobei anzumerken ist, daß ihn die ungeliebte Chemie hier erst recht einholte und in den theoretisch-physikalisch gedachten Weg stellte).
Doch die Hoffnung auf eine Hilfe durch das einzellige Dasein hat sich inzwischen als Fehlschluß erwiesen, und tatsächlich bedeutet diese Existenzweise des Pilzes, daß er sein Innenleben nicht allein den dort versammelten Molekülen und ihren meßbaren Reaktionen verdankt, sondern eine ganzheitliche Qualität entfalten muß, die inzwischen als „Verschränkung“ bezeichnet wird, wobei das ursprünglich von Schrödinger in die Physik eingeführte Konzept „Entanglement“ in der Biologie ausdrücken will, daß Pilze ein „Verwobenes Leben“ führen, wie ein Buchtitel es ausdrückt.[6]
Phycomyces führt ein verwobenes Leben. Der Pilz beginnt sein Leben als eine Spore, die auskeimt und mit Fäden einen Teppich ausbildet, der Myzel heißt und in dem sich alle möglichen Netzwerke bilden, die flexibel agieren, Informationen austauschen und sich unaufhörlich umgestalten. Dieser quirligen Verwobenheit oder Verschränkung des Lebens fügt das einfallende Licht eine weitere Komponente hinzu, die sich nicht ohne weiteres mit dem Ansatz der traditionellen Molekularbiologie fassen läßt und im zellulären Gewimmel untergeht, ohne daß die einsetzenden Reaktionen einzeln identifiziert werden zu können. In jeder Zelle steckt ein Stück der Geschichte des Lebens, das sich seit Milliarden von Jahren entwickelt, und man kann nur scheitern, wenn man bloß mit ihm spielen will und als Antwort auf eine Frage die Angabe einer bestimmten Molekülkonstellation erwartet, wie es als selbstverständlich galt, als alle Welt im molekularen Paradigma dachte. Delbrück ist an Phycomyces zum einen gescheitert, weil er sich von der vernünftig wirkenden Idee der einen Zelle hat blenden lassen und dem Objekt seiner Begierde mit zu wenig Gefühl begegnet ist, wie Barbara McClintock meinte, die Organismen nie als reine Reiz-Reaktions-Schemen angesehen und ihnen dafür eine eigene Raffinesse bescheinigt hat. Delbrück ist an Phycomyces merkwürdigerweise zum zweiten gescheitert, weil der das, was Niels Bohr mit der „Lektion der Atome“ meinte, nicht weit genug bedacht und auf das Ganze bezogen hat, mit dem hier der Pilz und seine Umwelt gemeint sind. „Licht und Leben“ sind verschränkt, und nicht anders zu haben.
 
Die Idee der Komplementarität

Abschließend soll noch einmal auf Niels Bohrs Einfluß auf Delbrück eingegangen werden, um die Idee der Komplementarität anführen zu können, mit der Bohr 1928 auf die Tatsache reagierte, daß die Physik das Licht sowohl als Teilchen als auch als Welle zu verstehen hatte. Komplementarität meint konkret, daß eine Messung, die Licht als Welle betrachtet, nicht zugleich auch seinen partikulären Charakter untersuchen kann. Es geht um sich gegenseitig ausschließende Zugänge zur Natur, und als Delbrück 1962 in Köln half, an der dortigen Universität ein Institut für Genetik einzurichten, lud er Bohr ein, sein altes Thema „Licht und Leben – noch einmal“ zu betrachten, was konkret bedeutete, dies vor dem Hintergrund der Molekularbiologie zu unternehmen, die inzwischen ihre Triumphe feierte.[7] Delbrück hoffte nämlich, bei allen Erfolgen immer nur „gegen eine neue Art von Komplementarität anzurennen“, und in seinem Einladungsschreiben versicherte er Bohr, daß die Idee der Komplementarität „in all diesen Jahren das einzige Motiv für meine Arbeit war“.[8]
Ihr Scheitern steckt auch hinter dem 1953 vollzogenen Wechsel von der Genetik zur Physiologie, denn in Delbrücks Sicht hat „die Entdeckung der Doppelhelix in der Biologie erreicht, wonach man sich in der Physik so gesehnt hatte. Nämlich die Auflösung aller Wunder in Form von klassisch mechanischen Modellen“[9]
Wenn man will, kann man sagen, daß Delbrücks eigentliches Ziel darin bestand, der Biologie die philosophische Höhe oder Tiefe zu geben, die die Physik dank der Komplementarität erreicht hatte. Er war davon überzeugt, daß die Annahmen, die zu einer kausalen Ordnung der biologischen Phänomene gehören, teilweise in Widerspruch zu den Gesetzen der Physik stehen, und zwar deshalb, „weil die Experimente am lebenden Wesen mit Sicherheit komplementär sind zu solchen, die die physikalischen und chemischen Vorgänge mit atomarer Genauigkeit festlegen“.[10]
Delbrück hätte gerne mit seinen Kollegen darüber gestritten. Aber sie waren anders beschäftigt. Auch so kann man scheitern. Er hat es immerhin versucht. Immer wieder, bis zuletzt.
 

[1] Fischer, E.P.  Die andere Bildung – Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, Berlin 2001

[2] Delbrück, M., Anfänge der Wahrnehmung, in von Ditfurth, H. (Hrsg.), Mannheimer Forum 1972

[3][3]Cerdá-Olmedo, E. und Lipson, E.D. (Hrsg.), Phycomyces, New York 1987

[4] Geschrieben in einem Brief an den Autor im Februar 1981

[5] Evelyn Fox Keller, Barbara McClintock – Die Entdeckerin der springenden Gene, Basel 1995

[6] Merlin Sheldrake, Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen, Berlin 2020; das Buch heißt im Original „Entangled Life“ und greift damit auf die im Text genannte Idee der Verschränkung zurück, die aus de Physik stammt und hier zum Ausdruck bringt, daß die physikalische Realität ein Ganzes ist, das gar keine Teile kennt. Auch das Leben ist ein Ganzes, in dem gerade die Pilze keine abtrennbaren Teile ausmachen.

[7] Bohr, N., Licht und Leben – noch einmal, Naturwiss. 50, 725 (1963)

[8] Ref. 1. S. 72

[9] Ref. 1, S, 73

[10] Ref. 1. S. 74
- Finis -

© 2021 Ernst Peter Fischer