Revolution und Sozialismus in Deutschland - ein Traum?

Regina Scheer - „Bittere Brunnen - Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“

von Johannes Vesper

Revolution und Sozialismus in Deutschland
- ein Traum?
 
Regina Scheers „Bittere Brunnen“
 
Hier geht es um die Lebensgeschichte von Hertha Gordon-Walcher (1894-1990), die ein Leben lag vom Sozialismus und seinen Segnungen geträumt hat. Mit ihrer Jugend in Königsberg verband sie Bernstein, den die Mutter in Heimarbeit poliert und der Vater im königlichen Bernsteinwerk sortiert hat. Sein Lebensmotto blieb für sie immer wichtig: „Say a mentsch“. Im Umgang mit dem Rabbiner Volkmann von der jüdischen Gemeinde lernte sie die uralte Geschichte kennen, nach der das Volk Israel auf dem Weg in das gelobte Land in der Wüste auf einen Brunnen mit ungenießbarem Wasser gestoßen war, welches aber, in Gebeten herausgefunden, durch Einwerfen trockenen Wüstenholzes genießbar zu machen war. Es kam also nicht nur aufs Gebet, sondern vor allem auch auf die Tat an. Geprägt durch das jüdische Leben in Königsberg, wuchs sie in der Sicherheit der Zedakah (jüdisch: Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, messianische Verheißung) auf. Diese Glaubensgewißheit mutierte im Laufe ihres Lebens zu Sozialismus und Kommunismus. Zu einer Ausbildung reichten die familiären Bedingungen nicht, sie arbeitete im Hutgeschäft mit und folgte mit 18 Jahren ihrer älteren Schwester nach London, lernte dort Stenografie und die englischen Suffragetten kennen.
 
Die Autorin kannte Hertha Gordon-Walcher schon als Kind. Tante Hertha schien alle wichtigen Menschen „in Paris oder New York, in Moskau oder London“ zu kennen, hatte selbst Lenin 1918 in seinem Moskauer Büro besucht und Clara Zetkin sieben Jahre lang als Sekretärin gedient. Regina Scheer hielt immer Kontakt zu Tante Hertha und schon vor der Wende entstand das Projekt, die Gespräche, Berichte, den Austausch mit dieser jahrzehntelangen Zeitzeugin der internationalen Arbeiterbewegung für eine Biografie zu sammeln. Das Material wurde ergänzt durch Briefe und umfangreiche Recherchen, nachdem die Archive der Parteien eingesehen werden konnten. Hertha Gordon-Walcher war keine intellektuelle Anführerin der Revolution, sondern eine Hilfskraft der großen Köpfe und immer im Hintergrund. Für Bertold Brecht war sie immer Jakob Walchers, des großen Revolutionärs, stille Frau im Hintergrund. Ihren Platz als Anhang dieses dominanten Mannes scheint sie akzeptiert zu haben.
 
Rosa Luxenburg und Karl Liebknecht waren in Deutschland ermordet worden. Im revolutionären bolschewistischen Russland und später unter Stalin wurden mißliebige Genossen großzügig wie „räudige Hunde“ behandelt oder gleich liquidiert. „Tote auf Urlaub waren sie alle, die Sozialisten, die Kommunisten, die Trotzkisten, die Sozialdemokraten, all diese »Linken«, die die Welt verbessern wollten und doch zersplittert und zerstritten blieben“. Auffällig, daß Ideologiekritik bei ihr trotzdem nie aufkam. Der starke Arbeiter und die kräftige Kolchosebäuerin mit Hammer und Sichel in ihren Arbeitshänden, wie sie in der offiziellen Sowjetkunst präsentiert wurden, blieben für Hertha Symbol der Hoffnung auf ein zukünftiges sozialistisches Paradies. Clara Zetkin sprach beim Verlassen der Eisenbahn in Russland sogar von „heiligem, revolutionärem Boden“. Die quasi religiöse Kritiklosigkeit oder Glaubensfestigkeit ist aus heutiger Sicht auch für Regina Scheer nur schwer nachvollziehbar.
Was sich in Nazi-Frankreich abspielte, wie dorthin aus dem „Land der Toten und ihrer Mörder“ geflohene Kommunisten und Sozialisten von Vichy-Franzosen im Camp de Gurs drangsaliert, in Marseille verraten wurden und zu Fuß über die Grenze nach Spanien geflohen (Portbou) sind, wird anschaulich und interessant geschildert. Hertha ist „davongekommen, obwohl immer nahe am Abgrund“. Daß nach den Rassengesetzen von 1935 geflohene Juden von schon früher geflohenen Widerständlern als Wirtschaftsemigranten bezeichnet wurden, erschüttert noch heute. 
 
Nach Kriegsende blieb es blieb es für Hertha selbstverständlich, daß sie am Kriegsende aus den USA auch ohne den geschätzten Dampfkochtopf nach Deutschland „zurück in die Kälte“ kehren und in der DDR den Sozialismus ausbauen wollte. Wenn selbst Bertold Brecht, Helene Weigel und viele Prominente der sozialistischen Familie nach Ostberlin kamen, glaubte sie sich politisch auf der richtigen Seite.
Das Kapitel über die DDR am Ende des Buches ist jedem zu empfehlen, auch solchen, die dort eine einigermaßen unbeschwerte Jugend erleben konnten. Inzwischen mehr als 30 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung wird bei dieser Lektüre deutlich, daß 1990 kommunistische Alternativen nicht mehr in Frage kommen konnten. Die „unbedingte Gläubigkeit und bedingungslose Loyalität der Gründerväter und -mütter der DDR“ war verloren gegangen. 
 
Bei lebhafter und engagierter Sprache, eingestreuten Zitaten aus verschiedensten Quellen, bietet diese sehr lesbare, authentisch-erzählte Zeitreise interessante Aspekte fast des gesamten 20. Jahrhunderts. Bei gewisser Banalität zahlreicher Erlebnisse und Episoden mit einer Unzahl von „Familienangehörigen“ der internationalen Arbeiterbewegung hat die Autorin das Material nicht gekürzt. Sie wollte „einfach nur zu erzählen versuchen, wie es gewesen ist“. Und der Leser bleibt nachdenklich zurück. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn sich 1918 in ganz Deutschland der Traum von der Revolution in Erfüllung gegangen wäre? Verzeichnis benutzter Literatur und das umfangreiche Namensverzeichnis über wichtige Personen der „Familie“ auf nahezu 100 Seiten könnte Leser zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema motivieren
 
Regina Scheer, geb. 1950 in Berlin, hat nach ihrem Studium an der Humboldt-Universität als Redakteurin und Journalistin gearbeitet, mehrere Bücher über das jüdische Leben in Deutschland geschrieben und 2014 mit ihrem ersten Roman „Machandel“ 2014 einen großen Publikumserfolg erzielt. Für „Bittere Brunnen“ erhielt sie 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Sachbuch“. 
 
Regina Scheer - „Bittere Brunnen - Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“
© 2023 Penguin Verlag, 1. Auflage, gebundenes Buch, 704 Seiten – ISBN: 978-3-328-60208-8
30,- €
 
Weitere Informationen: www.penguinrandomhouse.de/