Laß uns ruhig schlafen ...

Das berühmte „Abendlied“ des Matthias Claudius

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Laß uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbar auch“
 
Das berühmte „Abendlied“ des Matthias Claudius
 
Von Heinz Rölleke
 
Unter dem schlichten Titel „Abendlied“ fasziniert ein Gedicht in einfachster Sprachgebung seit nunmehr fast 250 Jahren die deutschsprachige Leserschaft, die es bei Befragungen jahrzehntelang auf Platz Eins der beliebtesten Lieder setzte. Das Lied war wohl 1778 entstanden und erschien im folgenden Jahr in der „Blumenlese“ von Johann Heinrich Voß; daraus entnahm es Johann Gottfried Herder ein Jahr später für seine bahnbrechende Volksliedersammlung, die er mit diesem Lied und einem rühmenden Text beschloß: Dies sei ein Muster, „welchen Inhalts die besten Volkslieder seyn und bleiben werden.“ Der Theologe Herder pries das Lied als Stück aus „der Bibel des Volks, sein Trost und  seine beste Erholung.“ Seltsamerweise aber ließ er die beiden Schlußstrophen ersatzlos ausfallen, obwohl gerade diese die endgültige Hinwendung zu Gott betonen. Matthias Claudius selbst druckte das Gedicht 1782 in seinem „Wandsbecker Bothen“, setzte die beiden Schlußstrophen (aus Respekt vor Herder durch einen dreifachen Asterisk markiert) wieder ein.
           
                        Abendlied
 
            Der Mond ist aufgegangen,
            Die goldnen Sternlein prangen
                        Am Himmel hell und klar.
            Der Wald steht schwarz und schweiget,
            Und aus den Wiesen steiget
                        Der weiße Nebel wunderbar.
 
            Wie ist die Welt so stille,
            Und in der Dämmrung Hülle
                        So traulich und so hold!
            Als eine stille Kammer,
            Wo ihr des Tages Jammer
                        Verschlafen und vergessen sollt.
 
            Seht ihr den Mond dort stehen? -
            Er ist nur halb zu sehen,
                        Und ist doch rund und schön!
            So sind wohl manche Sachen,
            Die wir getrost belachen,
                        Weil unsre Augen sie nicht sehn.
 
            Wir stolze Menschenkinder
            Sind eitel arme Sünder,
                        Und wissen gar nicht viel.
            Wir spinnen Luftgespinste
            Und suchen viele Künste,
                        Und kommen weiter von dem Ziel.
 
            Gott, laß uns  d e i n  Heil schauen,
            Auf nichts Vergänglichs trauen,
                        Nicht Eitelkeit uns freun!
            Laß uns einfältig werden,
            Und vor dir hier auf Erden
                        Wie Kinder fromm und fröhlich seyn!
                                   *
                        *                      *
            Wollst endlich sonder Grämen
            Aus dieser Welt uns nehmen
                        Durch einen sanften Tod!
            Und wenn du uns genommen,          
            Laß uns in Himmel kommen,
                        Du unser Herr und unser Gott!
 
            So legt euch denn, ihr Brüder,
            In Gottes Namen nieder;
                        Kalt ist der Abendhauch.
            Verschon' uns, Gott! mit Strafen,
            Und laß uns ruhig schlafen!
                        Und unsern kranken Nachbar auch.
 
Dieser Text wurde 1790 durch Johann Abraham Peter Schulz unangemessen in einem sentimentalen Ton komponiert und trug trotzdem (oder gerade deshalb?) zu der schier ungeheuren Popularität des Gedichtes bei. Claudius hatte allerdings als Melodieangabe eines der bekanntesten frommen Abendlieder angegeben, und zwar „Nun ruhen alle Wälder“. Der Text dieses seinerzeit noch allbekannten und bis heute berühmtesten Abendliedes stammt vom Barockdichter Paul Gerhardt. Als Vorbild diente diesem Heinrich Isaaks Lied vom Ende des 15. Jahrhunderts, dessen Melodie wurde später auf die verschiedensten Texte gesungen (von „Innsbruck [oder: O Welt] ich muß dich lassen“ bis hin zu Bachs „Wenn ich einmal soll scheiden“; es gibt Vertonungen von Schubert, Reger und in zahlreichen Kirchenliedern unserer Zeit). Claudius hatte die Melodie bei seiner Dichtung im Ohr, und auch heute noch wirkt die musikalische Umsetzung aus dem Spätmittelalter in ihrer sanften Bestimmtheit entschieden angemessener als die nach wie vor populäre Komposition von 1790. Gegenüber der alten Melodie wirkt sie durch ihre kurzen Intervalle insgesamt flacher und für heutige Hörer wohl auch eingängiger. Claudius hatte bei seiner wunderbaren Dichtung nicht nur die von ihm genannte Melodie, sondern selbstverständlich auch den jedem Kirchgänger bekannten Text des Paul Gerhardt im Ohr, dem er hinsichtlich der Vers- und Strophenform Silbe für Silbe genauestens folgte. Darüber hinaus machen einige Zitate, die man bei der allgemeinen Bekanntheit des alten Liedes keinesfalls als Plagiate werten kann, die erstrebte und zugegebene Verwandtschaft der beiden Abendlieder unübersehbar.
                       
                    Paul  Gerhardt                                      Matthias Claudius
            Nun ruhen alle Wälder                       Der Wald steht schwarz und schweiget
            Die güldnen Sterne prangen              Die goldnen Sternlein prangen
            Am blauen Himmelssaal                    Am Himmel hell und klar
            Nun geht, ihr matten Glieder,             Nun legte euch denn, ihr Brüder,
            Geht hin und legt euch nieder            In Gottes Namen nieder
            Gott laß euch selig schlafen               Und laß uns ruhig schlafen
 
Die grundierende Thematik beider Lieder ist gleich: Schlaf ist des Todes Bruder. Jeder Abend erinnert an diese Weisheit, und die Beter reagieren mit ihren vertrauensvollen Bitten - jetzt um einen ruhigen Schlaf und einst um einen sanften Tod. Claudius stellt weitere Themen in diesen Rahmen ein, die ein neues Vertrauen in Gottes Fürsorge sowie die problematische säkularisierte Entwicklung des modernen Welt- und Menschenbildes reflektieren. Es ist die für diesen Dichter mit seiner genial einfachen, volksliednahen Diktion kennzeichnend, wie er die Leser am Ende der zweiten Strophe fast unvermerkt in sein Gedicht hineinnimm, sie freundlich anredet, bis er sich dann mit dem „wir“ in der dritten und im Übergang zur vierten Strophe selbst in die Schwächen und Sünden der zu Unrecht auf sich „stolzen“ Menschen einbezieht. So kann er die Leser  direkt und ganz und gar vertraulich ansprechen: „Wo ihr des Tages Jammer […] Seht ihr den Mond […] die wir getrost belachen […] So legt euch denn, ihr Brüder.“ In den drei Schlußversen wird auch der „kranke Nachbar“ in das in seiner kindlichen Schlichtheit besonders anrührende Gebet mit eingeschlossen.

            Claudius pflegt einen fast kindlichen Sprachduktus, hinter dem sich aber viel Tiefsinn verbirgt. Dafür nur wenige Beispiele. Während Gerhardt von „Sternen“ spricht, braucht Claudius die Diminutivform „Sternlein“. Sterne seien Freunde vom Haus, hat er immer wieder erläutert, und so nimmt er sie hier quasi vom Himmel in die „stille Kammer“: Der Schlaf wird von den befreundeten Sternen geschützt, die den Schlafenden 'umhüllen'. Am Ende der ersten Strophe stehen sich der schwarze Wald und der weiße Nebel scheinbar kontrastiv gegenüber; tatsächlich aber bilden sie eine „wunderbare“ Einheit. „Der Wald steht schwarz“ ist eine Wendung, die erst seit dem Expressionismus geläufiger wurde, denn die Farbbezeichnung  ist nicht mehr adjektivisch (der schwarze Wald), sondern adverbial gebraucht (steht schwarz). So gewinnt die scheinbaren Nachtidylle etwas geheimnisvoll Dynamisches.  Sodann wird der Leser unter den nächtlichen Himmel geführt. Er soll den aufgegangenen Halbmond nicht nur staunend betrachten, sondern aus dessen Anblick auch eine Lehre ziehen: Auch unsichtbare Dinge existieren real (gemäß der biblischen Aussage „selig, die nicht sehen und doch glauben“). Wer diese Einsicht als aufgeklärter Mensch 'belacht', irrt gewaltig, wenn er darauf auch noch „stolz“ ist. Der moderne Mensch versucht, dem Bruch in der Schöpfung fälschlich durch seine“Künste“  beizukommen, was schon der Prediger Salomonis als eitles (vergebliches) Bemühen gebrandmarkt hatte: „Ich habe gefunden, daß Gott den Menschen hat aufrichtig gemacht, aber sie suchen viele Künste.“ In der fünften Strophe wird dann der Schöpfer in Gebetsform angemessen mit „Du“ angeredet: Man kann nicht über Gott, sondern nur zu ihm sprechen. Damit wird der Superbia ('stolz') und der Vanitas ('eitel' im alten positiven Wortsinn) die 'Einfalt' gegenüber gestellt, jene Einfalt, wie sie im Neuen Testament den 'Armen im Geist' attestiert wird und wie sie vorzüglich den Kindern eignet (Ende der fünften Strophe). Der zuletzt berufene 'kalte Abendhauch' läßt am Abend das Gefühl des Lebensabends spürbar und zugleich den Gedanken an Krankheit wecken. So wird am Ende des Gedichts der Nächste in einem Akt der Nächstenliebe ins Gebet eingeschlossen.   
            Das „Abenlied“ hat in weit über 200 Jahren ein Höchstmaß an Verbreitung und Volkstümlichkeit erlangt, den bekanntesten Volksliedern vergleichbar. Herders Prophezeiung, daß dieses Lied stets deutlich machen wird, „welches Inhalts die besten Volkslieder seyen und bleiben werden“ hat sich ganz und gar erfüllt.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023