Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (4)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (4)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Die Energie und die Urpflanze
 
Ich möchte an zwei weiteren Beispielen zeigen, wie das geistige Leben von Menschen mit dem Materiellen in der Natur verknüpft ist und wie diese Verbindung helfen kann, die Geistesgeschichte der Naturwissenschaften zu verstehen – und damit die Geschichte der Menschen überhaupt. Zum einen geht es um die Energie, von der heute so viele Leute reden, daß man den Eindruck bekommt, jeder weiß, was damit gemeint ist. Dabei ist das Wesen der Energie ein Geheimnis, was sich an ihrer Dualität zeigt, die den Romantikern gefallen hätte. Auf der einen Seite kennt die Physik den Satz von der Erhaltung der Energie, und auf der anderen Seite kann Energie nur dadurch erfaßt und verstanden werden, daß sie sich unentwegt wandelt. Zudem gibt es die innere Energie der Seele ebenso wie die äußere Energie einer Maschine, wobei beide unsichtbar bleiben. Vor 1800 haben Physiker von wirkenden Kräften gesprochen, um sich danach der unzerstörbaren Energie zuzuwenden, die Sigmund Freud 100 Jahre später als psychische Kraft deutete. Da war ihm Novalis zuvorgekommen, der in den „Klagen eines Jünglings“ die Schicksalsgöttin bittet, „O! so nimm, was Tausende begehrten, /was mir üppig Milde lieh, /gieb mir Sorgen, Elend und Beschwerden, /Und dafür dem Geiste Energie.“ Modern ausgedrückt, denkt sich Novalis den Menschen als Verkörperung von Energie, und ich denke, daß hier eine große Aufgabe der Naturwissenschaften liegt, die sich bemüht, die Masse (Schwere) der materiellen Dinge als Verkörperung einer immateriellen Energie zu verstehen, wobei sich nebenbei die tiefe Bedeutung von Einsteins Formel E=mc² zeigt, die nicht von Atombomben handelt, sondern von der Verkörperung der Energie, die dem Leben vermutlich am besten gelungen ist.
 
Zum zweiten soll es um die Urpflanze gehen, von der viele Menschen gehört haben, die Goethe auf seiner Italienischen Reise gesucht hat und gesehen haben will. Goethe wollte die Bildung aller Gestalten und Formen der Natur aus einem Grundplan heraus verstehen, also „durch die mannigfaltigste Wiederholung des ursprünglichen Bildungstypus“, wie er es nannte, und damit begründete Goethe „die Notwendigkeit der genetischen Methode für alle Naturwissenschaft“. Ich bitte zu beachten: „Genetisch“ stammt von Goethe, nicht von Genen. Hinter Goethes genetischem Gedanken steckt die (romantische) Vorstellung, daß jede Bildung als Teilung und in Gegensätzen erfolgt. Dieser Vorgang steckt schon im Wort „Bildung“ selbst, das doppeldeutig ist und nicht nur das bezeichnet, was hervorgebracht wird, sondern auch das Hervorbringen selbst. In der (romantischen?) Naturphilosophie der Goethezeit hat man stets nach der Einheit gesucht, die ihr Gegenstück – ihren Gegensatz – herstellt, die also zugleich Form und Formprinzip ist. Goethe hat es nicht bei der individuellen (besonderen) Beschreibung der Gestaltbildung belassen, sondern versucht, ein allgemeines Gesetz zu formulieren, mit dem die Bildung und Umbildung der Lebensformen zu erklären oder zu verstehen ist. „Verstehen“ bedeutete zu Beginn des 19. Jahrhunderts, das zu erklärende Geschehen auf ein einfaches, einheitliches Prinzip zurückzuführen. Man sprach von einem „Urphänomen“.
 
Das Wunderbare der modernen Genetik besteht darin, konkret ein Molekül gefunden zu haben, das die Teilung in zwei beherrscht und dessen Modell sich als die Urpflanze verstehen läßt, deren Finden Goethe ersehnt hat. Der Stoff heisst DNA und liegt in Form der bekannten Doppelhelix vor, die nur darauf zu warten scheint, sich in zwei zu teilen. Von dieser eleganten Spirale geht die Gestaltungskraft für den Bau eines Organismus aus. Die DNA ist erschaffene und erschaffende Natur zugleich. Sie liefert das Urphänomen im Zentrum des Lebens, und entsprechend ist das Gen das Urgebilde, das sich selbst hervorbringt, das immer zugleich etwas ist und sein Gegenstück werden läßt. Mit einem so verstandenen Gen könnte man tatsächlich von der „genetischen Methode der Wissenschaft“ und die Doppelhelix als die Urpflanze bezeichnen, auch wenn man sie nicht direkt im Leben sehen kann und erst ein Modell bauen muß. Als seine Schöpfer oder Entdecker es vor Augen hatten,[1] meinten sie, das Geheimnis des Lebens gelöst zu haben. Die Doppelhelix ist ihnen auf jeden Fall als Urpflanze erschienen, und die wissenschaftliche Welt sah dies auch so und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Doppelhelix kann viel erklären. Verstehen läßt sie sich nur als Urpflanze in molekularen Dimensionen.


 [1] Gemeint sind James D. Watson und Francis Crick, die die Struktur der Doppelhelix 1953 vorgeschlagen haben und dafür 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt worden sind.
 
© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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