Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (3)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (3)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Der Wille zum Leben
 
In der Biologie und beim Leben geht es nie nur um mechanische Erklärungen, sondern immer auch um ein sinnvolles Verstehen der organischen Formen und des zellulären Vermögens, auf Reize zu reagieren und sich zu teilen. Viele mögen denken, dass Bakterien oder Zellen, die in einem Laboratorium mit Nährlösungen versorgt und in Zellkulturen gehalten werden – schöne Worte für harte Arbeit –, bestenfalls unangenehm riechendes Rohmaterial für Experimente darstellen. Aber wer jemals die ungeheure Dynamik erlebt hat, mit welcher sich die Bakterien und Zellen mit ihren Erbanlagen teilen,[1] dabei massiv vermehren und ihren Lebensraum aus- und erfüllen, will diese Prozesse nicht nur oberflächlich erklären – durch Aufzählung der beteiligten Moleküle zum Beispiel –, er oder sie will in aller Tiefe verstehen, was sich da vor den beobachtenden Augen abspielt, und wenn jemand an dieser Stelle zu der Ansicht kommt, „Es sieht so aus, als ob die Zellen den Willen hätten, sich zu teilen“, dann kann man dem nur zustimmen. Der französische Molekularbiologe und Nobelpreisträger François Jacob hat einmal geschrieben, es sei offenbar der Traum einer jeden Zelle, zwei Zellen zu werden,[2] und ich denke, daß solche Formulierungen näher an die dynamische Wahrheit des Lebens herankommen, als jede auch noch so umfangreiche Zusammenstellung der molekularen Abläufe im Zellinneren es vermag. Sie muß natürlich erkunden, wer Menschen praktisch helfen will, mit Krebsgeschwulste umzugehen, aber neben dieser anwendungsorientierten Seite, die ihre eigene Moral entfaltet, sollte man nie die humane, also geisteswissenschaftliche Dimension übersehen, die in jeder Forschung steckt. Denn „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“, wie man sich nicht oft genug in Erinnerung rufen sollte, und mir bleibt unbegreiflich, wie eine Gesellschaft, die von den Erträgen der Forschung lebt, dies vergessen oder die hier tätigen Menschen fast komplett ignorieren kann. Wer in Buchhandlungen unter Biographien sucht, findet leicht Hegel, Schopenhauer, Voltaire, Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, während es Mühe macht, entsprechende Werke über Heinrich Hertz, August Weismann, Hermann von Helmholtz, Robert Koch, Josef von Fraunhofer, Max Planck, Niels Bohr und andere Naturwissenschaftler zu finden, um ein paar Namen anzuführen.[3] Über das populäre Trio „Marx, Wagner, Nietzsche“ hat der Historiker Herfried Münkler kürzlich ein Buch vorgelegt,[4] in dem er bei aller Unterschiedlichkeit seiner Helden einen gemeinsamen Punkt ausgemacht hat. Marx, Wagner und Nietzsche – sie alle drei verachteten den Philister, den man auch als Spießbürger bezeichnen kann und dem Arthur Schopenhauer bescheinigt hat, „ohne geistige Bedürfnisse“ zu existieren und daher auch „ohne geistige Genüsse“ zu bleiben. Wenn selbst Marx, Wagner und Nietzsche sich über solche Leute beklagen, was sollen dann erst Max Planck und Albert Einstein sagen?
 
Ich nehme einmal an, daß hier im Publikum keine Philister zu finden sind, befürchte aber, daß die damit gemeinten Spießbürger in den sozialen Medien mit ihrer Dummheit die Bildungsmisere befördern, unter der das Land mehr leidet, als die Medien merken. Philister wissen wenig und meinen viel, und sie verbreiten gerne den Vorwurf, die Wissenschaft verstecke sich in einem Elfenbeinturm. Darauf kann man genüßlich mit einem erklärten Gegner der Dummheit, dem französischen Romancier Gustave Flaubert, antworten: „Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug, um ihn zum Einsturz zu bringen.“ Es könnte den Spießbürgern bald gelingen. Sie halten genug Dreck in ihren Händen bereit, den sie spielend leicht in den sozialen Medien loswerden können.
 
Über Dummheit aufregen konnte sich auch Arthur Schopenhauer, der seinen Zorn über die unnötig komplizierte Ausdrucksweise eines (oben erwähnten) Kollegen in Form eines Beweises faßte, der den Gemeinten als „geistlosen, unwissenden, Unsinn schmierenden, die Köpfe durch hohlen Wortkram degenerierenden Philosophaster“ entlarven sollte[5]. Schopenhauer hatte geärgert, daß sein Werk über „Die Welt als Wille und Vorstellung“ nicht die Aufmerksamkeit auf sich zog, die es seiner Ansicht nach verdient hätte. Es ist gut, wenn solch ein Zorn sprachlich Spaß bereitet, aber es wäre besser, Schopenhauers Ideen für die Lebenswissenschaften aufzugreifen, was jetzt unternommen werden soll. Der Philosoph hat in dem zitierten Buch das Thema angesprochen, das bereits im Zusammenhang mit Zellen erwähnt worden ist. Wer den Titel „Die Welt als Wille und Vorstellung“ liest, denkt vermutlich, der Autor habe mit dem Willen das persönlich ausgeprägte Wollen von Individuen gemeint, aber dem ist nicht so. Auch bei Tieren und Pflanzen findet Schopenhauer einen Willen, und er meint einen Willen zum Dasein, wie ihn heutige Augen selbst bei Bakterien und anderen Zellen zu sehen bekommen. Als „Die Welt als Wille und Vorstellung“ 1818 erschienen ist, konnte Schopenhauer die 1838 erstmals formulierte Zelltheorie des Lebens noch nicht kennen, aber ich bin sicher, er hätte den Bausteinen der Organismen auch solch einen Willen zum Dasein zugestanden, der sich inzwischen in ihrer unvorstellbaren Teilungsdynamik zu erkennen gibt. In dem Willen zum Leben sieht der Philosoph nicht nur „das verbindende Band“ zwischen den Organismen. Schopenhauer hält die dazugehörige Triebkraft sogar für den „Ursprung der Welt“. Der Wille erscheint überall als wirkendes Prinzip, mit dessen Hilfe die Möglichkeiten des Daseins in die dazugehörige Realität verwandelt werden[6]. Wer sich in der Philosophiegeschichte auskennt, wird bemerken, daß Schopenhauers Wille genau das ist, was Aristoteles einmal Energie genannt hat, nämlich die Wirkkraft, die aus dem potentiellen das aktuelle Sein hervorbringt.[7] Der Wille wird so gesehen zur kosmischen Energie und die Welt zu seiner Erscheinungsform, wie Schopenhauer vorschlägt, und man braucht nur dem wilden Lebenswillen von Zellen in den Kulturen eines Laboratoriums zuzuschauen, um diese Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen und mit ihr das organische Treiben zu verstehen. Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft! Was denn sonst?  
 


[1] Es gibt dazu zahlreiche Videos bei YouTube, Stichwort: Bakterien oder Zellwachstum
[2] François Jacob, Die Logik des Lebendigen, Frankfurt am Main 1972
[3] Ernst Peter Fischer und Detlev Ganten, Die Idee des Humanen, Stuttgart 2021
[4] Herfried Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche, Frankfurt am Main 2022
[5] Zitiert in den „Populären Schriften“ von Ludwig Boltzmann, Leipzig 1905, S. 385
[6] Gut dargestellt in der Biographie Schopenhauers von Robert Zimmer, München 2012
[7] Ernst Peter Fischer, Unzerstörbar – Die Energie und ihre Geschichte, Heidelberg 2014
 
© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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