Sittich

von Erwin Grosche

Foto © Bernd Mueller

Sittich
 
Ich frage mich manchmal: Gibt es überhaupt noch Sittiche? Ich kannte sie noch aus der Werbung im Fernsehn. Sie wurden dort als Vögel beschrieben, die von einer großen Schilddrüse bedroht werden, wenn sie keine Trill Jod S 11 Körnchen knabbern. Meine damalige Freundin hatte einen Sittich, der immer dabei war, wenn wir uns küßten. Ich erinnere mich sogar, daß er dabei unsere Knutschgeräusche nachmachte, und das auf eine so lüsterne Weise, die ich gerade beim Küssen vermeiden wollte. Ich war ein wenig neidisch auf ihn, weil er einen Spiegel im Käfig hatte und wenn er sich alleine fühlte, einfach nur hineinzublicken brauchte und dachte, er wäre zu zweit. Ich meine, ich mußte mich stundenlang mit seiner Besitzerin abquälen und fühlte mich wesentlich einsamer.
Darf man überhaupt noch Sittich sagen? Ich habe den Eindruck, daß das Wort aus unserem Sprachschatz gestrichen wurde. „Der Sittich, der Sittich, der sitzt immer mittig. Ansonsten  wackelt sein Käfig zu sehr. Der Sittich, der Sittich, wär ich er, dann litt ich. Schlecht ging´s jedem, wenn er ein Sittich wär.“ Ich bin zu Karneval als Sittich gegangen, und bekam gewaltigen Ärger, weil jeder dachte, ich hätte mich als Indianer verkleidet. Da nutzte es mir auch nicht zu sagen, ich ginge als Sittich und wäre in der Mauser. Ist es denn richtiger, wenn die, die früher als Indianer gingen, nun als Cowboy gehen, als quasi als ihr Feind? Nun gehen alle, egal als was sie gehen, als Aufpasser. Ich bin froh, dass das Pierre Brice nicht mehr erleben muß. Ich habe nun auch in meinem Wohnzimmer einen großen Spiegel hängen und wenn ich mich alleine fühle, setzte ich mich davor und strahle mich an: „Der Sittich, der Sittich, der sitzt immer mittig. Ansonsten  wackelt der Käfig zu sehr. Der Sittich, der Sittich, wär ich er, dann litt ich. Schlecht ging´s jedem, wenn er  ein Sittich wär.“      
 
 
© Erwin Grosche 2023
 
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