Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (2)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Ein Erlebnis in der Schule
 
An dieser Stelle sei mir ein Bekenntnis gestattet. Diltheys und Hegels hilflose Haltungen sind bis heute in der geisteswissenschaftlichen Zunft verbreitet. Noch 1969 hat zum Beispiel der Schriftsteller Peter Bamm in seinem Buch „Adam und der Affe“ verkündet, daß es ein Merkmal humanistischer Bildung sei, „Naturwissenschaft als eine Angelegenheit zweiten Ranges zu betrachten“. Ich hasse dieses überhebliche Denken seit meiner in Wuppertal verbrachten Schulzeit. Ich kann mich sogar noch an den Augenblick erinnern, als der entsprechende Zorn und die Wut in mir aufstiegen. Ich wurde vom Direktor meines Gymnasiums 1967 bei der Abiturfeier in der Aula auf die Bühne gerufen, und ich rechnete damit, neben meinem Zeugnis den Dank der Schule zu empfangen, für die ich mich jahrelang in der Schülermitverwaltung engagiert und auch Diskussionsabende (ein „Oberstufenforum“ mit politischen Themen) organisiert hatte, bei denen nicht zuletzt der Oberbürgermeister der Stadt aufgetreten ist, der es später bis zum Bundespräsidenten gebracht hat* (*gemeint ist Johannes Rau).
Bei meinem Treiben hatte es einige Querelen mit dem Schulleiter, einem promovierten Philosophen, gegeben, der nun in der Zeugnisverteilung die Gelegenheit sah, mich öffentlich zurechtzustutzen. „Es ist ja schön“, so hörte ich ihn sagen, „wenn man gute Noten in den Naturwissenschaften bekommt, [die hatte ich], aber ob jemand reif ist, das sieht man an seiner Deutschnote.“ Ich war mit einem „Mangelhaft“ in diesem Fach einmal sitzen geblieben, hatte aber zum Abitur hin ein knappes „Befriedigend“ erreicht und war mit mir zufrieden. Nun mußte ich die Worte des Direktors anhören, und auf einmal schien mir, daß nicht ich, sondern er keine Reife erkennen ließ. Ich drehte mich um, ging von der Bühne, verließ die Aula und fuhr nach Köln, wo ich mit dem Studium der Physik beginnen konnte. Ein paar Semester später bin vor Stolz geplatzt, als mir ein Zeugnis ausgehändigt wurde, auf dem „Diplom Physiker“ stand. Die Physik war so spannend mit ihren Quantensprüngen in den Atomen und den Relativitätstheorien von Raum und Zeit, mit ihren elektrischen und magnetischen Feldern und ihren technischen Anwendungen etwa als Laserlicht oder Supraleitung, und von anderen Naturwissenschaften wie der Chemie mit ihren Wirkstoffen, der Biologie mit ihren Genen und der Physiologie mit ihrem Blutkreislauf war noch gar nicht die Rede. Ich hatte das Gefühl, ich könnte alles erklären und verstehen, was die Welt am Laufen hielt, und ich begann zu schweben, als man mir sagte, meine Diplomarbeit habe das Interesse von Max Delbrück geweckt.
 
       Der aus Berlin stammende Biophysiker war 1969 auf dem Weg von Los Angeles nach Stockholm, um hier den Nobelpreis für Medizin entgegen zu nehmen. Delbrück legte in Köln einen Stop ein, es kam zu einem Treffen, und der Sohn des Historikers Hans Delbrück lud mich ein, bei ihm zu promovieren. So fand ich mich Anfang der 1970er Jahre am California Institute of Technology in Pasadena wieder, wo ich versuchen sollte, mit biophysikalischen Mitteln die Reaktionen zu verstehen, mit denen ein kleiner Pilz auf Licht oder andere Umweltreize reagiert. Es ging darum, mit seiner Hilfe die Anfänge von Wahrnehmung – griechisch aisthesis, das Ästhetische – zu verstehen, und ich wiederhole an dieser Stelle das von Dilthey für die Geisteswissenschaften reklamierte Wort „verstehen“, weil es bei Delbrück und vielen anderen Wissenschaftlern letztlich um diese Aufgabe ging. Natürlich galt es zunächst, Schritt für Schritt zu klären und erklären, wie das Licht oder ein anderes Signal es fertigbringt, im Pilzgewebe aufgenommen und weitergeleitet zu werden, um den Ort zu finden, an dem es das Wachstum beeinflussen und dem Pilz helfen kann, auf seine Umwelt zu reagieren. Aber darüber hinaus stand zur Debatte, wie der Organismus mit diesem Vermögen seine Überlebenschancen erhöht, das heißt, es galt zu verstehen, wie welche Reaktion ihm einen evolutionären Vorteil verschafft und wie er den erwerben, bewahren und vererben konnte. Delbrück hatte als gebildeter Mann die Achte Elegie von Rilke im Hinterkopf, in der es heißt, „Mit allen Augen sucht die Kreatur das Offene“. Delbrück wollte verstehen, wie dies konkret in einem Organismus geschieht und wie zum Beispiel ein kleiner Pilz den Weg in dieses Offene mit seinem lebensnotwendigen Licht findet, wie er ins Freie gelangt, um hier seine Sporen auszustreuen und mit ihrer Hilfe Nachfahren zu erzeugen und in ihnen weiterleben zu können. Bevor jetzt jemand sagt, daß dies deshalb nicht zu den geisteswissenschaftlichen Themen gehören könne, weil Pilze kein Gehirn und damit keinen Geist haben, sollte er oder sie noch einmal zögern und sich vor Augen führen, wie zum Beispiel Pflanzen ohne solch ein Denkorgan geistreich ihr Überleben in Gärten und Parks gesichert haben und es ihnen gelungen ist, viele Menschen von morgens bis abends für sich schaffen zu lassen, um den Pflanzen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Es gibt offenbar Geist ohne Gehirn, und die Geisteswissenschaft sollte darüber jubeln und sich fragen, ob und wo man schon einmal das Umgekehrte, nämlich Gehirne ohne Geist angetroffen hat. Da fallen wahrscheinlich vielen Menschen rasch viele Beispiele ein, wobei Anwesende natürlich ausgeschlossen sind.
 
© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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