Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (1)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (1)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Die Naturwissenschaften sind ein weites Feld, vielleicht ein zu weites Feld, wie der alte Briest am Ende eines berühmten Romans seiner Luise hätte sagen können, wenn er über den damaligen Stand von Physik, Chemie, Biologie und anderen Disziplinen informiert gewesen wäre. Sie konnten dank ihrer enormen Fortschritte im Verlauf des 19. Jahrhunderts für „Die Verwandlung der Welt“ sorgen, die Historiker in dieser Zeit ausgemacht und beschrieben haben.  Theodor Fontanes Roman über Leben und Leiden von „Effi Briest“ ist vor der Wende zum 20. Jahrhundert erschienen, als eine energiereiche und durchdringende Art von Strahlung beobachtet werden konnte, mit der die medizinische Diagnostik eine neue Qualität bekam, als Physiker auf die Radioaktivität von Elementen aufmerksam wurden und sich daran machten, die dabei austretenden Energien zu nutzen, und als es erstmals gelang, Elektronen aus Atomen zu befreien, die damit nicht mehr so unteilbar waren, wie Philosophen seit der Antike meinten – wobei anzumerken ist, daß in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts das alte Atom dank einer neuen Physik durch etwas neues Unteilbares abgelöst wurde. Wie sich herausstellte und wie noch ausgeführt wird, erwiesen sich die Beobachter und das Beobachtete als untrennbar, ließ sich die forschenden Subjekte nicht von den erkundeten Objekten trennen, was zu einer Einheit oder Verbindung führt, die ich gerne als neues Atom bezeichne. Mehr dazu später. 
 
Zurück zu Effi Briest und ihrem Vater. Ich nehme an, daß viele Menschen im Publikum von dem erwähnten Roman und seinem Autor gehört und sicher auch einiges von Fontane gelesen haben, es würde mich aber wundern, wenn sie ebenso viel von den Ideen des Physikers wüßten, dessen Namen sie als Verb benutzen, wenn sie sich röntgen lassen, und ich befürchte, daß die meisten Zeitgenossen lieber weghören, wenn von radioaktiver Strahlung oder Elektronen die Rede ist. Sie verpassen auf diese Weise den historischen Augenblick am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem die Physiker das Tor öffnen konnten, das den Weg zu den Atomen freigab. Jetzt durften Menschen erstmals hoffen, das faustische Verlangen, „daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, befriedigen zu können, ohne sich der Magie zu ergeben und gezwungen zu sein, mit dem Teufel zu paktieren. Als sich Goethes Faust am Beginn des 19. Jahrhunderts in tiefer Nacht beklagte, er „sehe, daß wir nichts wissen können“, konnte ihm das Publikum im Theater noch zustimmen, es hätte sich aber zu Fontanes Zeiten darüber gewundert, wie es der „Mensch in seinem dunklen Drange“ nicht nur geschafft hatte, an sein Ziel zu kommen, sondern sich dabei auch die ganze Zeit „des rechten Weges wohl bewußt“ war, wie Goethe den Herrn sagen läßt. Gemeint ist der rechte Weg, der die Physik unweigerlich in die Sphäre der Atome geführt hat und an dessen Ende die wissenschaftlichen Wanderer nicht mehr aus dem Staunen herauskamen, was auch damit zu tun hat, daß sie sich im Innersten der Welt von den Philosophen im Stich gelassen fühlten und deren Aufgaben zur Deutung der dort angetroffenen Wirklichkeit mit übernehmen mußten. Wer die im 20. Jahrhundert erfolgreich unternommene Abenteuerreise in die Welt der Atome verstehen möchte und die Überraschung der mutigen Eindringlinge nachvollziehen will, als sie dort drinnen plötzlich einer Wahrheit gegenüberstanden, die ihnen Interpretationen abverlangte, muß die Geschichte der Naturwissenschaften studieren und bei deren Nachvollzug eine Menge Geisteswissenschaft treiben. Es reicht nicht, eine Chronik der Ereignisse anzufertigen und die dazugehörige Liste der technischen Innovationen und experimentellen Fortschritte aufzustellen. Man muß sich auch auf das kreative und von einem historischen Willen angetriebene Vorgehen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Expedition in die geheimnisvolle Tiefe einlassen, denn „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“. So schreibt Werner Heisenberg im ersten Satz seiner Autobiographie „Der Teil und das Ganze“, in der ein junger Physiker als Goethe Bewunderer, Schubert Verehrer und Platon Kenner von seinen „Gesprächen im Umkreis der Atomphysik“ berichtet.  Die in den Dialogen zu Wort kommenden Forscherinnen und Forscher haben zusammen mit ihrer Wissenschaft auch die politische und ökonomische Geschichte der Menschheit geformt und ihr Sozialeben maßgeblich beeinflußt, auch wenn dieses Wissen kein Allgemeingut ist.  Einige Stichworte dazu heißen Halbleiter, Transistoren, Digitalisierung und iPhones. Die Geschichte der Wissenschaft gehört somit zu den „Humanities“, wie die Geisteswissenschaften im Englischen heißen, und wer die ungemein mächtigen Einflüsse der „scientifischen“ Disziplinen auf das humane und historische Dasein erkunden will, muß sich auch auf die Antriebe und das Seelenleben der zu ihnen beitragenden Menschen einlassen und den historischen Ort kennen, an dem sie tätig werden, und sich auf die dazugehörige Zeit einlassen, etwa die Jahre der Weimarer Republik. Nur in diesem Kontext läßt sich verstehen, wie Menschen die unsichtbare Natur mit ihren abstrakten Theorien erklären konnten, wie überwältigt sich die beteiligten Personen nach deren Bestätigung fühlten und wie sie sich anschließend mit ihrem Wissen an ihre eigentliche Aufgabe machten, nämlich zur Erleichterung und vielleicht zur Verbesserung der menschlichen Existenz beizutragen.  
 
Übrigens, das ungewohnt klingende Attribut „scientifisch“ läßt sich bereits bei dem Dichter Novalis finden, der 1798/99 ein Arbeitsheft, ein „Allgemeines Brouillon“, angelegt hat, um seine „historische und philosophische Sehnsucht befriedigen“ zu können.  Das wäre eine Aufgabe für die Moderne, Naturwissenschaft als Erfüllung einer Sehnsucht betreiben, die zum einen darin besteht, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern, wie man nicht oft genug wiederholen kann, und die zum zweiten etwas Absolutes finden möchte. Gesucht danach hat zum Beispiel der große Max Planck, der sich auch nicht scheute, Feinde der Wissenschaft auszumachen und anzugreifen.  Ich hoffe, diese Sehnsucht und Leidenschaft in Ihnen wecken zu können. Die Naturwissenschaften lohnen den geisteswissenschaftlichen Blick, denn sie romantisieren die Welt, wie noch gezeigt wird, auch wenn sie konkreter und im Alltag spürbarer die vielen technischen Entwicklungen ermöglichen, die Menschen mit Entzücken nutzen. Oder gibt es jemandem im Saal, der ohne iPhone und ohne Auto durch sein Leben kommt und auch auf einen Kühlschrank oder einen Kaffee im Flugzeug verzichtet?   
 
Wie dem auch sei: Die Wissenschaft versucht die Welt zu erklären, und der Wissenschaftshistoriker versucht zu verstehen, wie dies gelingen oder wie man dabei scheitern kann. Verstehen und erklären – das sind die beiden Schlüsselworte, die der Philosoph Wilhelm Dilthey verwendet hat, als er sich im späten 19. Jahrhundert daran machte, eine große Kultur in zwei kleinere zu spalten und die eher ungeliebten Naturwissenschaften von den vielfach verehrten Geisteswissenschaften zu trennen. Dilthey tat dies zu einer Zeit, als Robert Koch die Ursache der Cholera entdeckte und Heinrich Hertz sich daran machte, die elektromagnetischen Wellen zu erkunden, und beide naturwissenschaftlichen Arbeiten und ihre dazugehörenden technischen Anwendungen brachten massive Auswirkungen für das menschliche Dasein mit sich, was es nicht bloß zu erklären, sondern vor allem umfassend zu verstehen gilt. Dilthey hat dies nicht bekümmert. Er wollte die Naturwissenschaften mit ihren Bakterien und Batterien zweitrangig erscheinen lassen, und deshalb gestand er ihren Vertretern lediglich zu, die Dinge zu beobachten und zu erklären, ohne dabei etwas von den historischen Prozessen mit ihren kreativen Komponenten zu verstehen, was dafür die Geisteswissenschaften vermochten, wie Dilthey meinte. Vielleicht hatte er Novalis im Kopf, der einmal geschrieben hat, „Der Poët versteht die Natur besser, wie der wissenschaftliche Kopf“, wobei der romantische Dichter anders als Dilthey sehr wohl wußte, daß man dies erst tun kann, wenn man „selbst eine ausgebildete Welt im Kopf“ hat. Und sie verdankt ein Mensch seiner Lust am Wissenschaftlichen, wie Novalis sie praktiziert hat. Der junge Poet arbeitete an der erwähnten „scientifischen Bibel“, die er – wie erwähnt – „Allgemeines Brouillon“ nannte und in der er bereits im 18. Jahrhundert sich über Halbleiter Gedanken machte hatte,  von denen die meisten Menschen bis heute nichts wissen, obwohl es ihre iPhones ohne diese „nährenden Mittel“ gar nicht geben könnte, wie Novalis sie genannt hat. Man redet heute mehr über Halbgötter in Weiß als über Halbleiter in Handys, was ich nicht einmal als Halbbildung akzeptieren und nur als Kulturlosigkeit und Dummheit in Diltheys Gefolge bedauern kann, die sich unerträglich in den Feuilletons und Medien ausbreitet.   
 
Übrigens – die Verachtung der Naturwissenschaften setzt meiner Ansicht nach mit Hegels Philosophie ein, wenn er eine „Phänomenologie des Geistes“ entwirft und dabei versucht, das Werden des Wissens und das Wachsen der Einsichten darzustellen. Hegel mußte im frühen 19. Jahrhundert zu seinem Ärger feststellen, daß dieses Wissen zunehmend und fast ausschließlich aus den Naturwissenschaften kam, die zum Beispiel in der Chemie Wahlverwandtschaften erkunden und aus anorganischen Stoffen organische Verbindungen herstellen konnte, um nur die Fortschritte zu nennen, die Goethe beeindruckt und beeinflußt haben, der sich zudem von den Erscheinungen des Magnetismus beeindruckt zeigte. Hegel kam da nicht mehr mit, und so reagierte der Herr des Geistes mit der Verachtung der Naturwissenschaften, die bis heute nachwirkt. Es ist auch so bequem, die Augen an diesen Stellen zu verschließen. Die Apparate funktionieren ja auch, wenn ich ihre Entwickler verachte und von ihrer wissenschaftlichen Grundlage nichts wissen will. 
 
© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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