Dienstagmorgen

Stehcafé VI

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Dienstagmorgen
Stehcafé VI

Der große Dreieckstisch meiner Bäckerei hat mir schon eine Viertelstunde lang allein gehört, ich lese unter dem wohlwollenden Blick der Bäckerin in meiner ausgebreiteten Zeitung, aber jetzt kommen weitere Gäste. Drei Arbeiter in schwarzer Montur. Wie hier üblich bietet man einander großzügig Raum auf dem Tisch an, was wiederum bescheiden und höflich von jedem abgelehnt wird.

Draußen fällt leichter Regen, er hat schon bei meinem gemächlichen Lauf durch den Wald geprickelt. Übrigens, schon im fünften Jahr wagen sich keine Pilze hervor, die sich meine Frau immer wünscht. Aber wie gesagt, schon fünf Jahre lang habe ich keine gefunden. Was ich aber immer finde, ist die Morgenzeitung, auf die unsere Oma heftiger wartet als meine Frau auf die Pilze. Oma, siebenundneunzig, vergleicht immer den Zeitungsbericht über das Länderspiel vom Vortag mit ihrem eigenen Eindruck, den sie vor dem Fernseher hatte. Die Ergebnisse hat sie stets in Erinnerung.
Meine drei Tischnachbarn hören einem neuen Gast zu, der über angeblich faule Harz IV-Empfänger und geldgierige Banker schimpft.

Mir fällt auf, daß alle drei ein rotes Emblem auf dem Ärmel haben. „Was bedeutet das?“ frage ich neugierig. „Irgendwas mit dem Landschaftsverband? Oder eine Behörde?“
Nein. Es bedeute einfach „Unbrennbar“. „Inflammable“.
„Falls Sie in die Hölle kommen?“ scherze ich vorwitzig.
„Nein“, sagt der neben mir, „ich komme doch nicht in die Hölle.“
„Immerhin kommst du abends nach Hause“, sagte der übernächste.
Auch das nicht. Er sei Single.
Ich: Immer schade, wenn eine Familie kaputtgeht.
Er: Habe er alles hinter sich. Nie mehr. Er lebe allein, sei glücklich, habe alles, was er brauche. Von Frauen habe er genug. Seine habe alles besser gewußt. Frauen seien zickig.
„Frauen dürfen das sein“, sagt die Bäckerin.
„Lüg nicht“, sagt sein Nachbar. „Du hast eine Freundin.“
„Ja, sicher“, antwortet mein Nachbar trotzig, „aber die lebt allein.“
„Aber du hast eine!“
Er gibt es zu. Aber was solle er machen? Was solle er denn allein anfangen? Er blickt herausfordernd in die Runde.
Da lachen alle, auch die Bäckerin. Ganz ohne Männer wüßte sie auch nicht, was sie anfangen sollte. Und wieder lachen alle.
Über meine bohrenden Fragen hat sich keiner gewundert. Vielleicht hat die Bäckerin sie vor meiner Neugier gewarnt.

Ich falte meine Zeitung zusammen, stelle Tasse und Teller sorglich in das bereitstehende Gestell, verabschiede mich achtungsvoll mit aufmerksamem Blick auf jeden und trete vor die Türe. Es ist der Augenblick, wo die Bäckerin wieder auf Zeit für eine halbe Zigarette hofft.
Solange es den Wald gibt, denke ich, und ich kann darin herumlaufen und danach Kaffee trinken, fehlt mir eigentlich nichts. Nur krank darf ich nicht werden – ein Mann im Rollstuhl nähert sich. „Der kommt öfter“, sagt die Bäckerin leise, „er hat Muskelschwund. Er war früher Bibliotheksdirektor.“

Der Mann mit dem Rollstuhl kann ohne Schwierigkeit in die Bäckerei fahren, die zu ebener Erde liegt. Aber er hält bei uns an. Seine Hände liegen schlaff auf den Armstützen, seine Mundwinkel hängen herab.„Ich habe Sie gerade vorgestellt“, sagt die Bäckerin zu ihm. „Der Herr hier liest auch viele Bücher, glaube ich.“
„Es geht“, sage ich bescheiden. „Meistens schlafe ich nach ein paar Seiten ein.“
„Macht nichts“, antwortet der ALS-Kranke. Hauptsache, man liest im Buch des Lebens.“
„Sonst nichts?“ fragt die Bäckerin.
Doch, einiges müsse man wohl oder übel gelesen haben.
Dann wendet er sich an mich. „Sie gucken so auf das Ding da. Da hänge ich mein Telefon dran. Die Arme sind ein  bißchen schwach, wissen Sie.“ Ich blicke ihn stumm und hilflos an. Was soll ich zu einem Manne sagen, der am Kreuz seiner Krankheit hängt?
„Gestern war ich beim Arzt“. sagt er. „Der war ganz zufrieden.“
Der Arzt war zufrieden...
„Achtzig würde ich natürlich nicht.“
Achtzig stehen einem heute doch eigentlich zu.
„Sie wissen was ich habe? ALS.“
„Ich habe es schon gehört.“
„Ja...
Ist nicht alles so, wie Sie sich das jetzt wohl denken. Das Leben ist auch schön, ja, manchmal ist es wunderbar. Als ich im Juli mit dem Rollstuhl über die Alpen gefahren bin, das waren sie schönsten Augenblicke meines Lebens. Bis Mailand bin ich gekommen. So, jetzt brauche ich meine Brötchen, bitte. Meine Frau wartet auf mich.“

Ich gehe langsam zu meinem Auto, das in einer Seitenstraße der kleinen Siedlung steht. Es steht niemanden zu, gesund zu bleiben, leider. Aber der hier bleibt  wohl Sieger.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008