Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter

Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens im falschen Kopf (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Halbbildung, Halbgötter und Halbleiter
 
Über Bildung und die Unmöglichkeit eines richtigen Denkens
im falschen Kopf (2)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
 
Halbleiter
 
Hier soll nun eine winzig kleine Hinführung zur möglichen Schambefreiung geboten werden: Seit dem 18. Jahrhundert versuchen Physiker elektrische Phänomene systematisch zu erkunden, was im 19. Jahrhundert zu einer Elektrifizierung der Haushalte führte. Als Giambattista Vico in der Epoche der Aufklärung seine „Scienzia nuova“ vorstellte, also „Die neue Wissenschaft“, haben Forscher erstmals zwischen Materialien unterscheiden können, die Strom entweder leiteten oder sein Fließen aufhielten. Ich habe diesbezüglich auf der Schule noch das Ohmsche Gesetz erläutert bekommen, das seit dem frühen 19. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen einer Spannung und dem Stromfluß in einem Draht angeben kann und dafür die Größe des elektrischen Widertands eingeführt hat. Er galt als unveränderlich für eine bestimmte Materialsorte, und bei Leitern wie Kupferdrähten war der Widerstand sehr niedrig, während er bei Nichtleitern (Isolatoren) wie Keramik oder Glas extrem hoch lag. Zwar fiel irgendwann einigen Physikern auf, daß es zwischen den beiden genannten Polen noch etwas Drittes gab, das sie folglich Halbleiter nannten, aber sie legten diese Stoffe zunächst achtlos beiseite, ohne weiter oder genauer zu fragen, was denn dafür sorgte, daß anfangs ungewohnte Materialien wie Silizium, Bor, Selen oder Germanium ihre Leitfähigkeit änderten, wenn man etwa die Temperatur erhöhte oder ihnen Energie in einer anderen Form zuführte. Man suchte damals vor allem entweder möglichst gut leitfähiges oder zuverlässig isolierendes Material, da beide Stoffe für frühe technische Anwendungen gebraucht wurden, und was sollte man dabei mit Halbleitern anfangen, die den Betrieb nur zu stören schienen?
 
Das Interesse an diesen Stoffen nahm aber plötzlich zu, als der spätere Nobelpreisträger Karl Ferdinand Braun 1874 bei seinen Versuchen bemerkte, daß sich der Widerstand von Halbleitern mit der Intensität und Richtung des Stromes ändern kann, der durch sie fließt. Die bislang eher verpönten Stoffe konnten deshalb als Schalter verwendet werden und auch die Aufgabe von Gleichrichtern übernehmen, da sie sich in der Lage zeigten, aus einer Wechselspannung, wie sie heute an den Steckdosen abzugreifen ist, die Gleichspannung zu machen, mit denen man bevorzugt einige Haushaltsgeräte betreiben möchte. Insgesamt verbirgt sich hier eine lohnenswerte Geschichte der frühen Elektronik, die mit der Konstruktion von Dioden und ihren Plus- und Minuspolen begonnen hatte, die Strom nur in eine Richtung passieren ließen, und bald Trioden hervorbrachte, bei der einer Diode als drittes Bauelement zwischen die beiden Pole ein Gitter hinzugefügt wurde, an das man eine Spannung anlegen konnte, mit dessen Hilfe sich dann einlaufende elektrische Signale verstärken oder allgemein steuern ließen.[1] Vermutlich kommt das halbgebildeten Halbgöttern im Soziologenhimmel belanglos vor, aber die Geschichte geht immer weiter, weil Menschen neugierig sind, Wanderer bleiben und immer nach dem Besseren suchen, was bald nötig wurde.
 
Die eben erwähnten Bauelemente von Stromkreisen bestanden anfänglich aus evakuierten Glashüllen – sogenannten Vakuumröhren –, in denen man im Fall der Triode zwischen das übliche Paar aus (negativer) Kathode und (positiver) Anode ein Gitter angebracht hatte. Die funktionierte zwar wunschgemäß, erwies sich aber als höchst anfällig und damit letztlich unbrauchbar. Es galt somit im 20. Jahrhundert, ein verlässlicheres Verstärker- oder Steuerelement zu finden, und nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Physiker gut genug mit Kristallen aus Halbleitern umgehen, um die empfindlichen Röhren durch robustere Bauelemente aus Festkörpern zu ersetzen. Das heißt, im Jahre 1947 konnte die wissenschaftliche Welt den ersten Transistor bewundern, der seinen Konstrukteuren John Bardeen, Walter Brattain und William Shockley 1956 den Nobelpreis für Physik eintrug, wobei der verwendete Kunstbegriff ein Kofferwort ist, das die englischen Ausdrücke „transfer“ und „resistor“ vereinigt. Die Bezeichnung „Transistor“ läßt erkennen, daß in der dazugehörigen Konstruktion durch geeignete Kombination von Bauteilen ein elektrischer Widerstand übertragen und damit gesteuert werden kann. Die höchst raffinierte Vorgabe der heute milliardenfach in Milliarden elektronischen Geräten zuverlässig eingesetzten Transistoren besteht darin, daß sich Halbleiter unterschiedlich dotieren lassen, wie man sagt. Dies bedeutet konkret, daß man etwa in einen Kristall aus Silizium Phosphor- oder Boratome einbringen und den Halbleiter auf diese Weise punktuell variieren – eben dotieren – kann, wobei im ersten Fall an den entsprechenden Gitterplätzen ein Elektron zu viel vorhanden ist und im zweiten Fall eins zu wenig vorliegt, da Siliziumatome außen in ihrer Elektronenhülle vier Ladungsträger aufweisen, während es bei Phosphor fünf und bei Bor drei sind.
 
Wenn an einem Platz in einem Kristall vornehmlich aus Silizium ein (negativ) geladenes Elektron fehlt, spürt der Stoff das Loch als eine positive Ladung – er ist p-dotiert, wie die Fachwelt sagt –, und wenn es in dem Festkörper ein Element mit einem Elektron zu viel gibt, liegt ein n-dotiertes Material vor, wie es heißt. Und wie so oft in der Wissenschaft – auch wenn sich etwas beim ersten Hören und beim Anfertigen höchst schlicht anhört, kann es doch durch geeignete Kombination zu raffinierten Ergebnissen und eleganten Möglichkeiten führen, und so kam im Dezember 1947 der erste (noch klobig wirkende) Transistor zustande, dem damals kaum jemand angesehen hat, wieviel kleiner die Schaltung werden konnte, um zuletzt schließlich die Welt zu verändern.
 
Noch eine historische Anmerkung: Was eben über das Verständnis von Elektronen und Kristallen und die Konstruktion von Transistoren gesagt worden ist, wäre ohne die Quantenmechanik der Atome sowohl verborgen als auch unmöglich geblieben. Diese Quantentheorie der Materie ist von Physikern wie Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg und anderen erstmals in den 1920er Jahren entwickelt worden, und sie gar nicht genug bestaunt werden, auch wenn die Sozialphilosophen hierzu kein Wort zu sagen wissen und Habermas mit ihrer Hilfe lernen könnte, welche Ansprüche eine gute Theorie tatsächlich zu erfüllen in der Lage ist. Diese verbreitete (und von vielen Geistesarbeitern unbeeindruckt eingestandene) Ignoranz könnte als Ausgangspunkt für eine „Theorie der Unbildung“ in den entsprechenden Kreisen dienen, unter der die öffentliche Debatte der Bedeutung von Wissenschaft allgemein leidet und die das Ziel, das man – auch in Deutschland – als „public understanding of science“ propagiert hat, aktuell illusorisch werden läßt.


[1]
                        [1] Ausführlich in Ernst Peter Fischer, Das große Buch der Elektrizität, Köln 2011

 
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