Kosegarten

Eine Entdeckung

von Michael Zeller

Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten, vor 1818
Kosegarten

Eine  Entdeckung
 
Von Michael   Zeller
 
Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten – an mehreren Plätzen unterwegs an der Ostsee war mir der Name schon begegnet, und mit jedem Mal wuchs meine Neugier. Wie kann einen der Name „Kosegarten“ unberührt lassen, und dann auch noch Theobul? Doch erst auf Rügen, in der kleinen geduckten Backsteinkirche von Altenkirchen, einer der ältesten hier, bekam ich etwas von dem Mann in die Finger: ein Büchlein, in hübscher neuer Ausgabe – „Briefe eines Schiffbrüchigen“. Und hatte damit einen Fund gemacht.
 
Stärker als die „Briefe des Schiffsbrüchigen“ selbst interessierten mich zunächst die persönlichen Umstände eines Autors, der den schönen Namen Kosegarten durch sein ganzes Leben tragen durfte, und die moderne Ausgabe ließ mich nicht im Stich. In knappen Strichen ist die Biographie eines Mannes skizziert, deren Relief so stark von seinem Lebensraum geprägt ist, der Ostsee.
 
1758 in ein Mecklenburger Pfarrhaus hineingeboren (reich an Bildung, arm an Brot), fängt der junge Mann an der Universität Greifswald ein Studium an – natürlich Theologie. Doch er muß abbrechen, sein Vater kann die Kosten dafür nicht mehr aufbringen. ) Daraufhin verdingt Kosegarten sich auf Rügen als Hauslehrer, verliebt sich jeweils in das zu unterrichtende Töchterlein. Und immer endet das für ihn in einer Enttäuschung: Jedesmal wird er vom Hof gejagt.
 
Doch von früh auf findet Kosegarten – wen wundert es bei diesem Namen? – er findet Trost im Dichten. Sein Liebeskummer entweicht in Versen. Das tut der Seele gut, vor allem, und außerdem bringt es ihm auch noch ein Honorar ein. Hoch willkommen! Denn als Hauslehrer und später als Schulmeister lebt Kosegarten so armselig wie eine Kirchenmaus. Noch ein Grund mehr, sich auf die Literatur geradezu zu stürzen. Kosegarten dichtet, und nicht nur in Sachen Liebe. Er erzählt, korrespondiert, übersetzt. Fleißig ist er, aber auch klug. Seine Übersetzung der „Römischen Geschichte“ des Oliver Goldsmith widmet er dem schwedischen Kronprinzen Gustav Adolf, der später einmal König sein wird und Herr über Pommern – und damit zuständig für die Vergabe von Pfarrstellen, äußerst begehrte Pfründen seinerzeit. Die Widmung tut ihren Dienst. Gustav Adolf, mittlerweile auf den Thron gelangt, erinnert sich tatsächlich Kosegartens und wählt ihn unter dreißig Kandidaten für die Pfarrei von Altenkirchen aus. Jetzt hat der Mann, inzwischen Familienvater, Brot und die innere Ruhe, noch flinker seine Feder laufen zu lassen. Es muß ihm rasch von der Hand gegangen sein. Romane und Gedichte entstehen in erschreckend großer Zahl.
 
Fünfzehn Jahre lang bleiben Kosegarten das idyllische Pfarramt auf Rügen und seine geschmeidige Hand erhalten. Dann zieht der Krieg übers Land, ab 1806: Napoleons Truppen räumen mit dem alten Europa auf. Der Roman- und Hymnen-Dichter, wendig aus Not, wittert eine neue Chance. Kaum sind die Schweden besiegt, wechselt er alsbald auf die Seite der Franzosen, den neuen Herren des Landes, und wird von ihnen auf den Greifswalder Lehrstuhl für Geschichte und griechische Literatur gesetzt. Zum Dank hält Kosegarten Napoleon dann auch eine schöne Geburtstagsrede.
 
Doch die Geschichte geht immer weiter. Als die Franzosen 1815 bei Waterloo geschlagen sind und Vorpommern abermals unter eine neue Herrschaft gerät, die dritte bereits zu Kosegartens Lebenszeit (diesmal sind’s die Preußen), nimmt seine akademische Karriere zunächst davon keinen Schaden. Im Gegenteil, sie gedeiht weiter, bis in den Rang des Rektors der Universität.
 
Trotz allen äußeren Erfolgs: Seine Welt ist das nun nicht mehr. Der neuerdings vorzuzeigende deutschnationale Patriotismus geht an Kosegarten vorbei. Die Leser feiern jetzt andere Helden auf dem Papier. Ein Teil seiner Schriften (zuallererst natürlich die „Napoleonsrede“) wird auf der Wartburg feierlich verbrannt. Ein Jahr später, 1818, ist ihr Autor tot, hingegangen, wie es heißt, „mit Ruhe und Ergebenheit“. In Greifswald aber will er nicht begraben sein. Auf Rügen kommt er in die Erde, in Altenkirchen, neben der Kirche seiner langjährigen Pfarre.
 
Mit einiger Sympathie gehe ich jetzt an die Lektüre seiner fiktiven „Briefe eines Schiffbrüchigen“ selbst, zum ersten Mal 1793 erschienen und ein Jahr darauf bereits in dritter Auflage. Daraus wird ersichtlich, daß Kosegarten zu Lebzeiten ein publikumsmächtiger Autor gewesen ist. Und ein ausgefuchster dazu. Am Beginn wieder ein ergebenster Kratzfuß, diesmal vor „Gustav Adolph, damaligen Kronprinzen, itzt König von Schweden“. Ach ja, die Geschichte seiner Widmungen …
 
Ein Herbststurm auf der Ostsee (datiert auf 1792) wirft Volkers Schiff an die Nordküste Rügens. Solange das Schiff repariert wird, erwandert er sich das fremde Land, an das er gespült wurde, zwei Wochen lang, und schreibt sich seine Erlebnisse sofort frisch von der Seele, in Briefen, die an seine Braut gerichtet sind – Yseule! Theobul an Yseule … Bedauernswerte Menschenkinder. Geschlagen mit einem solchen Namen, muß Yseule sich jetzt auch noch Tag für Tag durch vollkommen unpersönliche Brautbriefe zwingen. Ob Yseule wirklich viel anfangen wußte mit so viel detailwütiger Landeskunde der Insel Rügen?
 
Sicher schmeckt Kosegartens Kunstgriff einem heutigen Leser wenig ranzig, aber ihm wird in den Briefen immerhin der Komfort zuteil, eben die Orte beschrieben zu sehen, die er gerade selbst bereist, wie sie ein wacher und kundiger Mensch vor zweihundert Jahren wahrgenommen hat.
 
Volkers Briefe zeichnen eine immer noch brauchbare Topographie Rügens nach, greifen weit aus in die Geschichte, beschreiben geologische Funde so gut wie die damals aktuelle Lage der Bevölkerung, der Bauern zumal, die im frühen 19. Jahrhundert ja noch in Leibeigenschaft lebten. Deutlich führt Kosegarten seinem Volker die Feder, als er ihn sich darüber empören läßt, daß Menschen wie „Mobilien sozusagen mit der Erdscholle, auf der sie geboren wurden, verkauft, vertauscht, verspielt oder verpfändet werden“. (Erst 1806 wurde die Leibeigenschaft in Vorpommern aufgehoben.) Volker in seinem Wartestand setzt auch über auf die Insel Hiddensee, er besingt die Kreidefelsen von Stubbenkammer als „Obelisken eines Demiurgus“. Er ist es auch, der Caspar David Friedrich, seinen Landsmann und Brieffreund, auf diese Felsen erst aufmerksam gemacht hat. Kein geringes Verdienst! Überhaupt hat Kosegarten dem Maler Friedrich die Landschaft Rügens nahegebracht und ganz früh auch seine Bilder gekauft - ein Jammer, daß sie alle verschollen sind.)
 
Am Ende des kleinen Buches sucht der schiffbrüchige Wandersmann den Pastor Finster auf, seines Zeichens Pfarrer von Altenkirchen und somit ein Selbstportrait Kosegartens. Ebenso wie der hält Finster „Uferpredigten“ unter freiem Himmel ab, in der „Zeit des Heringsfanges“, wenn die Fischer „während derselben Tag für Tag auf den lieben Hering harren müßten, und also nicht Zeit hätten, das Altenkirchener Gotteshaus, das fast eine Meile entfernt wäre, zu besuchen, wie denn auch unser Herr Christus gar gern unter den Fischern habe seyn mögen; sey auch schon ein paarmal mit ihnen auf den Fang gefahren, um die Allmacht Gottes zu betrachten und lasse sich diese Predigten nicht nehmen“.
 
Als Volkers Schiff wieder flott gemacht ist zur Weiterfahrt, haben die „einsamen und abgeschiedenen Gestade“ Rügens „jenes vertrauliche Gefühl von Koexistenz“ in ihm „hervorgerufen, was einem sonst nur die väterlichen Fluren einzuflößen pflegen“.
 
Mit diesem erfreulichen Befund schließt er seine Brautbriefe an Yseule ab und verläßt die Insel. Und wir verlassen einen Autor und sein Buch, das vor mehr als zweihundert Jahren die Insel Rügen literarisch entdeckt und kunstfähig gemacht hat, nicht nur für Caspar David Friedrich, dem es die Spuren legte.
 
Mein kleiner Fund im Gotteshaus von Altenkirchen hat das gehalten (und mehr vielleicht), was der Name seines heute vergessenen Autors versprach: Kosegarten – zarte Empirie einer Insel, gültig über die Zeit. Und mag der Lebenszuschnitt von vor zweihundert Jahren heute so ohne weiteres kaum mehr faßbar sein: Ahnen läßt er sich immerhin, einmal angesprochen, in den Gesichtern der Menschen hier, bis in unsere Tage, auch ihren Dörfern, ihrer Landschaft, unter dem Firnis der Moderne.
Auf den Gesichtern der Menschen bleibt die Erinnerung länger stehen als in ihrem Gedächtnis.
 
Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten lebte von 1758 bis 1818. Zwischen 1824 und 1827, noch in den Jahren Goethes, kamen seine Dichtungen in zwölf (!) Bänden heraus.
 
© Michael Zeller


„Künstlernovelle“ nennt Michael Zeller seine neue Erzählung Wendisches Sommergewitter. Der Schriftsteller Carlo Andrich ist Gast in einem Künstlerdorf im Wendland, bei Gorleben. Es sind die turbulenten Wochen, als gerade die erste Ladung von Atommüll dorthin gebracht wird, lange befürchtet und lange umkämpft. Zwischen den Bauern im Dorf und den Aktivisten der Anti-Atom-Bewegung aus dem ganzen Land steht der Autor und bekommt hautnah mit, was Politik aus und mit dem einzelnen Menschen macht. Kenntnisreich und witzig erzählt und gerade heute wieder von beklemmender Aktualität. „Die Kunst ist immer einfach. Nur die Zeiten: Sie waren es nirgends und nie.“
Das Buch erscheint wahrscheinlich im Mai im Rote Katze Verleg https://rotekatzeverlag.de/

Über den Autor

Michael Zeller lebt als freier Schriftsteller in Wuppertal. Seit seinem literarischem Debüt 1978 hat er ein vielgestaltiges Werk geschaffen: neben seinen acht Romanen zahlreiche Gedicht-, Erzähl- und Essaybände. Zu seinen Auszeichnungen gehören u.a. der Kulturpreis Schlesien, der Von der Heydt-Preis Wuppertal, der Andreas Gryphius-Preis und zuletzt, im Herbst 2022, der Georg Dehio-Preis für sein literarisches Gesamtwerk. Im gleichen Jahr erschien die Erzählung Abhauen! Protokoll einer Flucht, über den Abschied von einem alten Menschen (bei Rote Katze Verlag Lübeck).