Alles Kulturgut, Siegfried

von Wendelin Haverkamp

© Jürgen Pankarz
Alles Kulturgut, Siegfried
 
Also, da latterte mir doch neulich eine Postkarte aus Mallorca ins Haus: „Hallo Alter, was macht die Arbeit? Wetter prima, Essen super, apropos: Wie lange hast Du noch bis zur Rente? Dein Erwin.“
       Ich gönne es meinem alten Freund Erwin. Der hat es richtig gemacht: Mit 35 frühpensioniert, will sagen, soft in den Ruhestand geglitten wegen so 'ner Fußgeschichte, und seitdem ist der Mann nur noch auf Achse. Und den Erwin, den hab ich jetzt auch schon, lassen Sie mich nicht lügen, vier Jahre nicht mehr gesehen. Dabei habe ich noch ein paar Bücher von dem glauben Sie, ich wäre inzwischen einmal dazu gekommen, die zu lesen? Wer kommt heute schon noch zum Lesen! Peinlich wird es allerdings, wenn Freunde fragen, was fürn Buch sie ihren Kindern zum Geburtstag schenken sollen, damit die mal was für ihre Bildung tun; unsereiner, der soviel schrübe, hätte doch bestimmt Ahnung. Ich rede mich dann immer raus und empfehle deutsche Sagen, in denen wimmelt es nur so von Bildung. Siegfried zum Beispiel, da erfährt man grundsätzliche Dinge über den deutschen Menschen und sein Kulturgut an und für sich.
       Siegfried hatte nämlich eine Achillesferse an der Schulter. Wußten Sie das? Sehen Sie. Achilles und Siegfried haben etwas gemeinsam, und zwar das tragische antike Element in der deutschen Kulturgeschichte: Beide waren fast unverwundbar aber leider nur fast! Denn als Siegfried in Drachenblut badete, lag ein Lindenblatt auf seiner Schulter, so daß die Soße da nicht an die Haut kam, weshalb er an dieser Stelle verwundbar blieb. Und Achilles, Sie erinnern sich, der Typ, der vor Troja immer so um sich gehauen hat, den tunkte seine Mutter Göttin sowas hatte man damals als Held in den Todesfluß Styx, wodurch der Knabe für alle Zeiten einen natürlichen Panzer erhielt.
       Und jetzt passiert Folgendes: Seine Mutter mußte ihn ja beim Tunken irgendwo festhalten, sonst hätte die Geschichte womöglich gar nicht mehr richtig angefangen. Das also tat sie an der Ferse, und deswegen hatte Achilles an der Ferse keinen Panzer. Ich meine, das hat ihm später sicher noch oft leid getan, daß seine Mutter ihn nicht woanders festgehalten hat; aber da kann man selbst als Held nix mehr dran machen.
       Alles Kulturgut! Jetzt werden Sie sicher fragen, wieso es unseren blonden germanischen Siegfried trotz Panzer erwischt hat, obwohl kein Mensch wissen konnte, daß er seine Achillesferse an der Schulter hatte? Die Antwort ist im Grunde ganz einfach: Frauen! Und wenn sie damit auch nicht hinkommen, sagen Sie „Goethe“, dann liegen Sie fast immer richtig.
       Siegfried verknallte sich in eine stramme Blondine namens Kriemhild und kam so an den Hof von König Gunter, Sie erinnern sich: König Gunter, der lag im allgemeinen drunter. Und jetzt passiert Folgendes: Dieser Gunter hatte sich ausgerechnet in Brünhilde verguckt, ein ausgesprochen schwerer Typ, wogegen chinesische Kugelstoßerinnen ätherische Geschöpfe sind.
       Und die wollte keinen ranlassen, der sie nicht im Fünfkampf besiegen konnte. Aber der Gunter war clever und befahl Siegfried, das für ihn zu erledigen, was der mithilfe der berühmten Tarnkappe auch sofort machte. Das ist bei diesen Geschichten immer das Tolle: Im entscheidenden Moment, wo keiner mehr weiterweiß, zieht irgendeiner `ne Tarnkappe aus der Tasche, oder ein heiliges Schwert, oder'n Zaubertrunk und schon ist das Problem gelöst. Worüber dann Generationen von Germanistikstudenten fleißig Notizen und Examen machen, während sich die Nibelungen so kaputtlachen, daß in Walhalla die Kronleuchter von der Decke kommen.
       Alles Kulturgut! Aber das Schönste kommt ja noch: Als es in der Hochzeitsnacht endlich zur Sache ging, nahm die wilde Brünhilde ihren Gürtel, fesselte den schlappen Gunter und hängte ihn zum Trocknen an die Wand. Das waren rauhe Sitten damals bei den Burgundern, und teilweise soll das ja im Beaujolais auch heute noch so sein.
       Am nächsten Abend hatte König Gunter natürlich keine Lust mehr, schon wegen des tierischen Muskelkaters, und deshalb befahl er Siegfried, die Kappe aufzusetzen und Brünhilde in einem Kurzpraktikum über die Ehepflichten zu informieren. Der setzt sich auch aufgrund der größeren Matchpraxis durch, und jetzt passiert Folgendes: Unser starker Nibelunge war nicht nur blond, sondern mindestens genauso blöd. Er ließ nämlich Brünhildes güldenen Strumpfhalter mitgehen, um bei nächster Gelegenheit damit anzugeben.
       Alles Kulturgut, was natürlich hintenrum wieder Brünhilde mitkriegte; die erzählte das sofort dem berühmt-berüchtigten Hagen von Tronje. Der konnte den blöden Blonden mit der großen Kappe sowieso nicht leiden, und jetzt passiert Folgendes: Hagen von Tronje geht zu Kriemhild, Siegfrieds Frau, und macht ihr weis, es gebe demnächst eine Jagdgesellschaft, da lögen bestimmt die Speere tief; und damit er jetzt Siegfried beschützen könnte, sollte sie ihm mal verraten, wo diese sagenhafte Achillesferse bei Siegfried sei. Und die Kriemhild war dermaßen blauäugig, Sie verstehen, daß sie zwischen den Schultern extra ein Kreuz auf Siegfrieds Gewand stickte.
       Der Rest ist schnell erzählt: Eines schwülen Abends auf der Jagd, alle waren müde und die Getränkelage war verzweifelt, angeblich war das Metmobil mit einem Platten liegen geblieben, da sagt Hagen zu Siegfried: „He Alter, ich kenne hier in der Nähe `ne schöne Quelle, wetten, daß ich als erster da bin?" Und Siegfried sprach: „Top die Wette gilt!“
Und jetzt passiert Folgendes: Der blöde Siegfried rannte sofort los, war natürlich als erster da und beugt sich so geschickt über die Quelle, daß Hagen keine Probleme hatte, seine Lanze an der markierten Stelle einzulochen.
       Klar, daß Witwe Kriemhild ein bißchen stinkig war, und deshalb ehelicht sie schnell den nächsten verfügbaren König. Das war ein besagter Etzel, der günstigeıweise jede Menge Hunnen unter Vertrag hatte, und sobald wie möglich lud Kriemhild ihren Bruder Gunter ganz scheinheilig zum Kaffeetrinken ein, samt Hagen von Tronje, Volker, Giselher und wie die alle hießen, ein Dankwart soll auch dabei gewesen sein. „Dankwart“! Kaum zu glauben, die waren doch damals durch die Bank mit dem Pferd unterwegs.
       Egal! Denn jetzt passiert Folgendes: All diese edlen, hochintelligenten Recken marschieren tatsächlich freiwillig in Etzels Burg, um sich anschließend dortselbst totschlagen zu lassen. Und daß man so bekloppt sein kann, das fanden die Deutschen so großartig, daß sie es „Nibelungentreue“ nennen und sich bis heute jedes Jahr zum Andenken in Bayreuth treffen.
       Und was gucken sie sich da an? Richtig, den Nibelungenring; die Seifenoper eines gewissen Antisemiten namens Wagner, der zwar keine Ahnung von Musik hatte, aber umso mehr vom Schwulst in der deutschen Seele. Und in den Pausen wird dann diskutiert, was passiert wäre, wenn in Stalingrad doch nicht die Hunnen gewonnen hätten. Alles Kulturgut! Früher Salzkammergut, wie mein Opa zu sagen pflegte.
       Aber Sie wollen sicher wissen, wie das Hauen und Stechen auf Etzels Burg weiterging. Ich nenne Ihnen ein paar Kapitelüberschriften, dann wissen Sie, wo´s hinlief: „Wie Dankwart Gelfraten erschlug.“ „Wie Bleda erschlagen wurde.“ „Wie Iring erschlagen ward.“ „Wie sie die Toten aus dem Saal warfen.“ „Wie Ruedeger erschlagen ward.“
       Sie merken, das ist deutsches Kulturgut. Und jetzt wird Sie vielleicht noch interessieren, was mit Hagen und Kriemhild passiert ist. Sie ahnen es: Hagen wurde erschlagen, und zwar von Kriemhild, und Kriemhild wurde auch erschlagen, und zwar von Hildebrand, und wer das war, das brauchen Sie nicht zu wissen. Wär´ der Mann wichtig gewesen, dann wäre er sofort erschlagen worden.
 
 
Aus dem Buch „Parmesanides“, Aachen 2003
Die Illustration stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.