„Verderb der Musik“

Thomas Leibnitz - „Verrisse“

von Renate Wagner

„Verderb der Musik“
 
Kritikerschelte von Hanslick bis Kalbeck und Korngold
 
Wer käme heute noch im entferntesten auf die Idee, Kritik an einem Beethoven-Werk zu üben? Wer würde wagen (oder es auch nur wollen), Wagner und Verdi nicht für genial zu halten? Nun, wie man weiß, waren Musikkritiker und Zuhörer nicht immer so harmlos und ergeben wie heute (der Autor bezeichnet das als „Grundhaltung des vorbehaltslosen Respekts“). Es gibt ganz Bücher voll der Beschimpfungen, die Richard Wagner bei seinen Zeitgenossen locker machte, es gibt ausführliche Berichte über die den Gegner gnadenlos herabwürdigenden Schlachten, die die Anhänger von Brahms und Bruckner einander lieferten, und es gibt ausführliche Berichte über die Skandale, die Schönbergs Konzerte einst entfachten.
 
Nun hat Thomas Leibnitz, seines Zeichens Direktor der Musiksammlung der der Österreichischen Nationalbibliothek, mit „Verrisse“ ein stellenweise amüsantes Kompendium zu dem Thema zusammengestellt. Als Beispiele wählte er acht Komponisten, die als „Klassiker“ schlechthin gelten – wobei man Wagner und Verdi, Brahms und Bruckner, Strauss und Mahler stets als Gegensatzpaare empfunden hat. Beethoven steht chronologisch am Anfang, Schönberg am Ende, gerüffelt wurden alle.
Jeder Komponist bekommt – nach einer Einführung über den „Geniekult“ des Publikums – sein Kapitel. Es beginnt mit Wagner und hier gleich mit Nietzsches Verdammungsurteil: „Wagners Kunst ist krank.“ Er ortet die Hysteriker-Probleme einer Kranken-Galerie (so erscheinen ihm die Helden der Opern), er nennt Wagner den „Verderb der Musik“. So klingt enttäuschte Liebe, man kennt die Geschichte, die dahinter steht.
Die Kritiker von einst, deren Namen der Musikfreund wohl noch kennt, waren nicht persönlich betroffen, wenn sie, wie Ludwig Speidel, im „Ring des Nibelungen“ nur „stümperhaften Aufbau“ und „niederträchtigen Geist“ fanden, oder, wie Eduard Hanslick, den „Niedergang musikalischer Erfindung“. Haben sie es wirklich geglaubt oder war es einfach gezielte Polemik, versuchten sie die Tatsache abzuschütteln, daß sie möglicherweise von Wagners Klangwelten so unwiderstehlich in den Bann gezogen wurden wie Millionen Musikfreunde auch? Übrigens – auch Wagner kritisierte Wagner: In späteren Jahren fand er, er sei in der Gestaltung der Tannhäuser-Venus viel zu zahn und konventionell gewesen.
 
Um Wagner ging es besonders heftig her, aber auch Verdi bekam seine Schimpftiraden ab. War Nietzsches Wagner-Urteil wohl von gekränkter Liebe diktiert, so erfüllte den in Wien noch immer bekannten und verehrten Otto Nicolai wohl heftige Eifersucht, weil er selbst in Italien nicht reüssierte: „Seine (Verdis) Oper sind wahrhaft scheußlich und bringen Italien ganz herunter“, schrieb er. „Er instrumentiert wie ein Narr und (…) ist in meinen Augen ein erbärmlicher, verachtenswerter Komponist.“ Schlimmer kann es wohl kaum kommen.
Johannes Brahms, von Hugo Wolf als Epigone, also wertloser Nachzügler, weggefegt, mußte ebenso Unfreundliches über sich lesen wie Anton Bruckner. Max Kalbeck vernichtete dessen „Siebente“, was den sensiblen Komponisten, der sich „ein armer, verrückter Mensch“ nennen lassen mußte, in Verzweiflung stürzte. Der Autor fragt sich am Schluß jedes einzelnen Kapitels, wie die Betroffenen es ertragen haben mögen, daß so mit ihnen umgegangen wurde. Die Antwort: unterschiedlich.
Strauss und Mahler haben vielfach den blanken Haß der Kritik auf sich gezogen. Richard Strauss erhielt für die Vielfalt seiner Themen und Stile nicht etwa Lob, sondern das abwertende Urteil „stilistischer Inkonsequenz“, seine Tonsprache wird zu „Kling-Klang“ herabgewürdigt, und Robert Hirschfeld meinte über Gustav Mahlers Sechste, wenn er selbst nur dürftige, nichtssagende Themen fände, sei es logisch, daß er sich bei Brahms, Liszt und Bruckner bediene, um ihnen Motive abzunehmen.
 
Beethoven schließlich, für viele der Größte von allen, schon von den Zeitgenossen mehrheitlich anerkannt, hat mit seinem spröden Spätwerk auch Anhänger verstört. Der Autor „paart“ Beethoven, der von der Chronologie an der Spitze stehen müßte, hier mit Schönheit, setzt den absoluten „Klassiker“ und den „Zertrümmerer“ nebeneinander.
Auch an Beethoven wurde gelegentlich ein wenig herumgemäkelt – aber Arnold Schönberg hat die Musikwelt provoziert wie kein anderer. Mit entsprechendem Ergebnis. Als Arnold Rosé („als Schwager Mahlers an Mißklänge gewöhnt“, wie gehöhnt wurde), 1908 dessen Zweites Streichquartett zur Uraufführung brachte, erlebte der Musikverein einen Skandal wie noch nie – „unmusikalischer Sudel“ sei das. Nun war Julius Korngold, als Nachfolger Hanslicks Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“, an der Reihe, seine Vernichtungsurteile herauszuschleudern. Und Ludwig Karpath gab, wie der Autor formuliert, die Grundsatzfrage vor: „Man hatte Wagner Dekadenz und Langatmigkeit, Verdi Banalität, Bruckner Eklektizismus vorgeworfen“, aber es stand nie in Frage, daß es sich um Musik handelte. Bei Schönberg überlegte man nun: „Ist das überhaupt noch Musik?“
Nun, spricht man mit Musikfreunden, die ihre „klassische“ Prägung nicht überwinden können, so ist die Frage noch immer nicht entschieden.
 
Der Autor – seinerseits nie billig, nie hämisch – liefert zu dem „Panoptikum der Fehlurteile“ (wenn auch vielleicht nicht alle solche waren) reichlich Material und geht in jedem Kapitel ausführlich auf die negative Konnotation der einzelnen Künstler ein, wobei man das Gefühl bekommt, Böses wurde in früheren Zeiten oft aus unverhohlener persönlicher Feindschaft heraus formuliert.
Grundsätzlich lernt man für heute: Verständnis braucht Zeit, wenn man mit Neuem konfrontiert wird, Berührungsängste existieren immer, Kenntnisse wollen erworben sein. Es ist ein historisches Buch (wenn der Autor auch nicht in unverständlichem Sinn musikhistorisch-interpretatorisch sein will), getragen vielfach vom Amüsement, das man bei der Lektüre empfindet, aber das Buch ist darum nicht gestrig. Moderne Komponisten leben heute oft davon, daß der Beifall des Publikums nicht von wahrer Begeisterung getragen wird, sondern nur von der Angst, als rückständig zu gelten. Diese Angst hatten frühere Kritiken nicht. Sie sagten, was sie dachten – und in welcher Hinsicht sie polemisieren wollten. Die Nachwelt allerdings weiß, daß sie vielfach Unrecht hatten
 
Das ist übrigens ein Buch, das man aufgeschlossenen Musikfreunden immer schenken kann.
 
Thomas Leibnitz - „Verrisse“
Respektloses zu großer Musik von Beethoven bis Schönberg
‎© 2022Residenz Verlag, 256 Seiten, gebunden, mit zahlreichen Abbildungen - ISBN: 9783701735655
28,00
 
Weitere Informationen: www.residenzverlag.com