Schicksalstage deutscher Geschichte

Der 9. November 1938

von Jürgen Koller

Friedrich Wolf Foto: Stadt Remscheid

9. November 1938 – einer der Schicksalstage deutscher Geschichte

Gedanken zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht
 

Mein Abitur, seinerzeit in der DDR abgelegt, liegt zwar schon ein halbes Jahrhundert zurück, aber als ich mich dieser Tage mit dem so dramatischen 9. November 1938, dem Tag der Reichspogromnacht der Nationalsozialisten beschäftigte, fiel mir das Schauspiel „Professor Mamlock“ von Friedrich Wolf ( 1888 -1953) wieder ein. Im Lehrfach Literatur gehörte das Bühnenstück des Stuttgarter Armenarztes und proletarisch-kommunistischen Bühnenautors Wolf damals genauso zum Lehrstoff wie Stücke von Brecht oder der deutschen Klassik.
 
Friedrich Wolf war in den zwanziger Jahren ein viel gespielter Autor, der vor allem mit den Stücken „Zyankali“ (1928), gerichtet gegen den Abtreibungsparagraphen 218, und mit „Die Matrosen von Cattaro“ (1930), das den Aufstand der  österreichischen k.u.k-Marine im Jahre 1918 im Adria-Hafen Cattaro behandelt, große Erfolge feierte.
Nach der Machtübernahme Hitlers in das sowjetrussische Exil vertrieben, schrieb Wolf, der selbst sephardisch-jüdische Wurzeln hatte, bereits im Jahre 1933 das Stück „Professor Mamlock“. Es handelt von einem deutsch-jüdischen Klinikarzt und dessen Maxime, die lautet: „Ich bin Jude, aber in erster Linie Deutscher, ein  angesehener Bürger und Arzt, hoch dekoriert im Weltkrieg und habe von den Nazis nichts zu befürchten“.  

Foto: Margot Koller
 
Das Schauspiel kulminiert in einer Szene, in der SA-Horden den Professor aus seiner Klinik vertreiben und den Bürger Mamlock mit einem Schild „Jude“ um den Hals grölend durch die Straßen treiben. Diese schändliche Demütigung erfolgt im Angesicht der Mitbürger des Professors – vor Kindern, denen er auf die Welt geholfen, vor Frauen, die er vor dem Tod im Kindbett gerettet oder von Männern, die er nach Unfällen zusammengeflickt hatte. Doch die Mitbürger schauen weg. Professor Mamlock setzt seinem Leben am Schluß des Stückes ein Ende.
 
Das Schauspiel, im Nazi-Reich nicht aufführbar, wurde auf jiddisch am Kaminski-Theater in Warschau 1934 uraufgeführt, im gleichen Jahr wurde die deutschsprachige Uraufführung in Zürich unter der Regie von Leopold Lindtberg zu einem phantastischen Erfolg. Anschließend wurde das Stück in fast allen europäischen Ländern gespielt, überall gab es stehenden Beifall, die Zuschauer hatten oftmals Tränen in den Augen. Selbst in New York, das ja keine städtischen oder staatlichen Theater kennt, wurde Professor Mamlock von einer eigens zusammengestellten Theaterkompagnie gespielt. Der Kritiker der New York Times lobte zwar die gut herausgearbeiteten Charaktere der Bühnenhelden, bemängelte aber die doch wohl stark übertriebene Gesellschaftskritik des deutschen Autors Wolf.

Die liberalen New Yorker konnten sich nicht vorstellen, daß so etwas tagtägliche Realität in Deutschland geworden war. Erst nach dem Krieg wurde „Professor Mamlock“ in den Besatzungszonen gespielt – zuerst  1946 am Berliner Hebbel-Theater, später dann auch in Frankfurt/M., Stuttgart oder Bonn. Die Aufnahme des Stücks war durchweg positiv. So schrieb Walter Karsch im Berliner „Tagesspiegel“: „Das mit starker Eindringlichkeit gestaltete, klug alles Plakathafte vermeidende, Charaktere schaffende Stück Friedrich Wolfs wurde im Hebbel-Theater zu einem Erlebnis“. 1)  Und die „Rheinische Post“ (1947) schrieb, „Mamlock“ sei „das meistdiskutierte und zugleich meistbesuchte Stück“ der Saison. 2)  Natürlich gab es schon aus politisch-ideologischen Gründen viele Aufführungen in der sowjetischen Besatzungszone.  „Professor Mamlock“ und auch andere Stücke Friedrich Wolfs wurden später in der Bundesrepublik  kaum noch inszeniert, waren doch in der Wirtschaftswunder-Zeit und in den Folgejahren weder die Theater noch die Besucher an Wolfs kommunistischem Credo von der „Kunst als Waffe“ interessiert. Auch für die DDR-Theater hatte sich das „ewige Waffengeklirr“ proletarischer Bühnenkunst überlebt. Mit der gleichnamigen DEFA-Verfilmung des Stücks „Professor Mamlock“ schuf aber 1961 der Regisseur Konrad Wolf – einer der Söhne Friedrich Wolfs, der andere Sohn  war Markus Wolf, der Chef der HVA (DDR- Auslandsspionage der Stasi) – ein filmkünstlerisches Werk von bleibender Bedeutung. Der Bühnenschauspieler Wolfgang Heinz spielte im Film einen Mamlock von großer Menschlichkeit und Tragik.
 
Was im Bühnenstück noch als Einzelschicksal reflektiert wurde, nahm bis zum Jahre 1938 immer dramatischere Formen an. Juden aller Berufe und sozialer Schichten wurden aus der Gesellschaft mit rigid-brutalen Mitteln ausgegrenzt. Die Nazis wollten Deutschland „judenrein“ machen und drängten jüdische Deutsche zum Exil, im Freikauf gegen harte Devisen. 3)

Synagoge Elberfeld -
Foto: Stadtarchiv Wuppertal
 Doch all das reichte den NS-Machthabern nicht aus. Am 9. November 1938 hielt Hitler anläßlich der Feier zum Jahrestag des „Marsches [der Nationalsozialisten] auf die Feldherrenhalle 1923“ in München seine berüchtigte Hetzrede und löste damit ein Judenpogrom ungeahnten Ausmaßes aus. Anlaß war der Mord, den der 17-jährige jüdische Junge Herschel Grünspan in der deutschen Botschaft zu Paris an dem Legationssekretär Ernst von Rath verübt hatte. Der Junge glaubte den deutschen Botschafter vor sich zu haben und wollte sich für die Behandlung seiner Eltern rächen.
 
In ganz Deutschland gingen in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 SA-Schlägertrupps gegen jüdische Synagogen und Geschäftshäuser vor – sie zerstörten, brandschatzten und mordeten. Die offizielle NS-Statistik bilanzierte in akribischer deutscher Genauigkeit:
91 Juden, meist Geschäftsleute, getötet; 29 Warenhäuser durch Feuer vernichtet; 7.500 Geschäfte verwüstet; 1000 Wohnhäuser und 101 (!) Synagogen zerstört oder abgebrannt.
Oftmals wurden die Feuerwehren in den Städten und Gemeinden daran gehindert zu löschen, manchmal gossen fanatisierte Wehrleute  aber selbst Benzin in die jüdischen Gotteshäuser. 
Um den Druck auf die Auswanderung mittels Freikauf zu erhöhen, wurden nach der Reichspogromnacht 35.000 Juden zusammengetrieben und vorübergehend in KZs gebracht. Allein in die Lager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen waren im November 1938 10.000 deutsche Juden eingeliefert worden.

Das große Geschäft aber machte Göring mit der Schadenersatzzahlung nach dem Pogrom. Da die

Synagoge Barmen-
Foto: Stadtarchiv Wuppertal
zerstörten Geschäfte und Warenhäuser oftmals in deutschem, d.h.     „arischen“ Besitz, die Juden nur Pächter oder Mieter waren, mußten alle Juden im Deutschen Reich eine Milliarde Reichsmark aufbringen, um den Schaden zu bezahlen. Der Ersatz des Kristallglases der Schaufenster mußte damals in Belgien für viel Geld beschafft werden.  So entstand der auch heute noch oft benutzte, aber verharmlosende, von der NS-Propaganda geprägte Name „Reichskristallnacht“. Es sollte  korrekterweise bei „Reichspogromnacht“ belassen werden.
Auch die beiden Synagogen der jüdischen Gemeinden in Elberfeld, geweiht 1865, und in Barmen, erbaut 1887, wurden 1938 durch Brandstiftung vollständig zerstört. Im NS-Organ „Rheinische Landeszeitung“, Ausgabe Wuppertal, vom 11. November 1938 hieß es dazu: „Auf bisher ungeklärter Weise sind die beiden in Wuppertal befindlichen Synagogen, die schon seit langer Zeit für jeden ehrlichen und anständigen Volksgenossen eine Provokation bedeuteten, in Brand geraten.“ 4)
Auch wenn uns Nachgeborenen die „Gnade der späten Geburt“ zuteil wurde - eine Frage sei trotzdem erlaubt: Wohin hat die Generation unserer Eltern und Großeltern geschaut, als in Deutschlands  Städten die Synagogen der Juden zu Feuerfackeln im Nachthimmel des 9. November 1938 wurden?
 
Es sollten einige Jahrzehnte ins Land gehen, bis die durch Zuwanderungen aus der zusammengebrochenen Sowjetunion inzwischen wieder erstarkte jüdische Gemeinde - heute rund 2000 Mitglieder –  in Wuppertal eine eigene Synagoge erhielt. Bereits im Jahre 1994 konnte die Gedenkstätte  „Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal“ auf dem Grundstück der früheren  Elberfelder Synagoge der Öffentlichkeit übergeben werden.

Begegnungsstätte - Foto © Margot Koller
 
Ein besonderer Feiertag für die Wuppertaler jüdische Gemeinde war dann  der 8. Dezember 2002. An diesem denkwürdigen Tag wurde die Neue Bergische Synagoge in Wuppertal-Barmen in Anwesenheit des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, des NRW- Ministerpräsidenten Peer Steinbrück, des Bundespräsidenten Johannes Rau und Israels Staatspräsidenten Moshe Katzav eingeweiht. Erstmals nahm damit der höchste Vertreter des Staates Israel an einer Synagogeneinweihung in Deutschland teil. Architektonisch wird der Synagogen-Neubau, der rund 4,5 Millionen Euro gekostet hat, von einem gläsernen Turm und von neun hohen, schmalen Fenstern geprägt, die einen Chanukka-Leuchter versinnbildlichen sollen.  
Das Grundstück für diese Synagoge wurde von der evangelischen Gemeinde Gemarker Kirche der jüdischen Glaubensgemeinschaft zur Verfügung gestellt. Auf diesem bedeutsamen historischen Grund sagte einst im Jahre 1934 die evangelische Bewegung „Bekennende Kirche“ den Nationalsozialisten den Widerstand an.

Neue Bergische Synagoge - Foto © Margot Koller

Anmerkungen:
1) Zitiert nach: Walther Pollatschek, Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs / Ein Spiegel der Geschichte des Volkes, Henschelverlag Berlin 1958, Seite 398
2) a.a.O.: Seite 397
3) Der Dresdner Romanist Victor Klemperer, selbst Jude,  beschreibt eindringlich in "LTI" (Lingua Tertii Imperii – Die Sprache des Dritten Reichs) „Notizbuch eines  Philologen“ wie die deutschen Juden ihrer Bürgerrechte bereits in den Jahren vor der Pogromnacht von 1938 beraubt wurden und wie danach eine neue Welle terroristischer Gewalt gegen die jüdischen Deutschen begann. "LTI" ist bei Reclam wieder erhältlich.
4)Zitiert nach: Kurt Schnöring, Wuppertal / Ein Stadtführer, Verlag M. Krumbeck / Graphium press, Wuppertal, 1989, Seite 74

aktuelle Fotos: © Margot Koller

Redaktion: Frank Becker