Silvester und Neujahr

Tradition und Gedichte zum Jahreswechsel

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Silvester und Neujahr
 
Tradition und Gedichte zum Jahreswechsel
 
Von Heinz Rölleke
 
Januar, der Name des seit 153 v. Chr. ersten Monats im Neuen Jahr, geht auf den altrömischen Gott Janus zurück. Er spielt in der antiken Götterwelt eine besondere Rolle: Die Römer hatten in der Regel griechische Götter und deren Funktion übernommen (Diana = Artemis; Jupiter = Zeus; Mars = Ares; Minerva = Athene; Neptun = Poseidon; Pluto = Hades; Venus = Aphrodite); nur der seit Alters hoch verehrte Janus dürfte ausschließlich auf römische Traditionen zurückgehen. Seine Verehrung, nur mit der Jupiters vergleichbar, war bis weit in die Kaiserzeit hinein lebendig. Der römische Neujahrswunsch war lange Zeit hindurch allgemein gebräuchlich: „Annum novum faustum felicem.“ Das ausgiebig mit Gottesdiensten, öffentlichen und privaten Vergnügungen überaus prächtig gefeierte Fest des Gottes Janus war ganz auf die Zukunft im neuen Jahr ausgerichtet; es traten die neu gewählten Consuln ihr Amt an. Die junge Christengemeinde war zu klug, als daß sie mit dieser traditionsreichen überaus populären Feier am 1. Januar konkurrieren wollte. So wurde und blieb bis heute der erste Tag des Neuen Jahres kein kirchlicher Fest- sondern lediglich ein Gedenktag (was auch für den vorausgehenden Silvestertag gilt). Stattdessen ließen und lassen die Christen ihr Kirchenjahr mit dem ersten Adventsonntag beginnen.
 
Unter den vielen dem alten Gott zugeschriebenen Eigenschaften ist die Zweigesichtigkeit des Gottes wohl die eindrucksvollste und bekannteste. Auf vielen Münzen, die Jahrhunderte hindurch geprägt wurden, sieht man zwei durch Anlehnung ihrer Hinterköpfe verbundene Häupter, die in diametral verschiedene Richtungen schauen. Am Scheitelpunkt des Jahres blickt der eine in die Vergangenheit zurück. Der andere sieht in die Zukunft voraus. Von dem Vorausblickenden erwartete man Nachrichten über kommende Ereignisse, an denen man besonders interessiert war. So dürfte etwa das bis heute im Brauch befindliche Bleigießen am Silvestertag auf das Janusfest zurückgehen.
 
Die christlichen Konfessionen taten sich mit der Erstellung von Kirchenliedern zum Neujahrstag schwer - der 1. Januar war eben kein kirchlicher Feier- oder Festtag eines Heiligen. Erst seit dem 20. Jahrhundert finden sich sporadisch bemerkenswerte Lieder für den Gottesdienst am Neujahrstag. Im Gegensatz dazu sind seit dem Mittelalter viele Volkslieder und Dichtungen zum Jahreswechsel entstanden: Man feierte und wollte dazu auch singen.
 

  Neujahr - Hans Stubenrauch, Der Wächter

Seit Beginn des 19, Jahrhunderts haben sich renommierte Dichter mit dem Thema befaßt. Hier sollen Gedichte Johann Peter Hebels (1760-1826) und der Annette von Droste Hülshoff (1797-1848) betrachtet werden. Die Droste hat das Thema einmal für den Zyklus des „Geistlichen Jahres“ 1840 aufgegriffen („Am letzten Tag des Jahres“), ein zweites Mal unter dem Titel „Neujahrsnacht“ für ihren 1844 erschienenen Gedichtband.
 
Janus schaut vorwärts und rückwärts, er ist der Gott des Anfangs und des Endes. Dichter, die dieses Thema wählen, müssen sich also entscheiden, ob sie den Schwerpunkt auf den Rückblick ins vergangene oder auf den Vorausblick auf das neue Jahr legen, oder ob sie beide zu verbinden suchen.
 
Die sporadisch entstandenen, zunächst ihrer Großmutter gewidmeten Gedichte eines „Geistlichen Jahres“ waren von Beginn der Konzeption im Jahr 1819 ein Schmerzenskind der jungen, im seinerzeit erzkatholischen Münsterland weitgehend isoliert lebenden Dichterin. Ihre adelige Verwandtschaft nahm ihr sehr übel, daß sie sich selbst in einigen Gedichten zum Jahreswechsel rückblickend ziemlich direkt zu verschiedenen Schwächen und Sündenfällen öffentlich bekannte: „Was ich begangen und gedacht [..] O schwerer Fall!“ - „Du Sündenkind, war nicht ein hohl und heimlich Sausen jeder Tag in deiner wüsten Brust Verlies?“ - „Mein Leben bricht, ich wußt' es lang! Und dennoch hat dies Herz geglüht / In eitler Leidenschaften Drang.“
Die Aburteilung auch dieses verrinnenden Lebensjahrs in den letzten Stunden ist zwischen dem Eingangs- und den Schlußsatz situiert: „Das Jahr geht um“ und „Das Jahr ist um!“
 
In den letzten Stunden vor Mitternacht kommt es zu einer trostlosen Gleichsetzung des ablaufenden Jahres mit der letzten Lebensstunde. Als Hoffnung bleibt nur das Erflehen der unverdienten Gnade, der Barmherzigkeit Gottes: „O Herr, ich falle auf das Knie: Sei gnädig meiner letzten Stund.“
In diesen Versen zu Neujahr dominieren der trostlose Rückblick auf ein unglücklich verbrachtes Jahr und die Erwartung der Letzten Stunde. Es ist die janusköpfige Betrachtung des vergehenden Jahres. Der Blick in eine ungewisse Zukunft fragt, ob das Leben wie ein letzter Tropfen Öl, ob das Lebenslicht in einem „Lämpchen verraucht.“ Es bleibt die rhetorische Frage nach dem Grab: „Eröffnet sich des Grabes Höhl mir schwarz und still?“ Der janusköpfige Vorausblick auf das Neue Jahr treibt den brühenden Angstschweiß auf die Stirn. Das allgemein als tröstliches Zeichen der Hoffnung verstandene Neujahrsgeläut wird als „Sterbemelodie“ empfunden, so daß als einzig sinnvolles Gebet die die Bitte um Gottes Gnade verbleibt:
 
                        O Herr, ich falle auf das Knie:
                        Sei gnädig meiner letzten Stund'!
                        Das Jahr ist um!
 
Im Jahr 1844 erschienenen Droste-Gedicht „Neujahrsnacht“ sieht sich das Lyrische Ich als Beobachter der eher dumpfen
Neujahrsbräuche bei Arm und Reich; die eigene Hinwendung zu Gott blickt nun zuversichtlicher ins Neue Jahr hinein, obwohl auch hier wieder die Ahnung von der Öffnung „des Grabes Tür“ im Neuen Jahr anklingt; die Geste ist allerdings dieselbe geblieben wie im Jugendgedicht:
 
                        Und mählich schwellen Orgelklänge
                        Wie Heroldsrufe an mein Ohr:
                        Knie nieder, Lässiger, und dränge
                        Auch deines Herzens Wunsch hervor!
                        „Du, dem Jahrtausende verrollen
                        Sekundengleich, erhalte mir
                        Ein mutig Herz, ein redlich Wollen,
                        Und Fassung an des Grabes Tür.“
 
Die Wendung, mit der das vergangene Jahr der Gnade Gottes anvertraut wird („Gott, gnade uns, um ist das Jahr“), wirft zugleich einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Die Hammerschläge der Neujahrsglocken lichten den dunklen Wald der Zeit für eine hellere Zukunft:
 
                        Zukünftiges wird offenbar;
                        Von allen Türmen um die Wette
                        Der Hämmer Schläge, daß es schallte,
                        Und mit dem letzten ist die Stätte
                        gelichtet für den neuen Wald.
 
Von ganz andrem Zuschnitt ist ein berühmtes Neujahrsgedicht, das Johann Peter Hebel, der bis heute besonders durch seine Kalendergeschichten wie „Kannitverstan“ oder „Unverhofftes Wiedersehen“, ähnlich Mathias Claudius, bekannt geblieben ist. Hebels Dichtungen sind ursprünglich der Zeit und den Ideen der Aufklärung zuzurechnen und dementsprechend ausgeglichen und unaufgeregt abwägend. So wurden und werden 'Hütte und Palast', Arme und Reiche, letztlich gleicherweise mit Schmerz und Freude bedacht:
 
                        War's nicht so im alten Jahr?
                        Wirds im neuen enden?
 
Auch hier wird also - allerdings leise und fast überhörbar – die Frage nach dem Tod ins Neue Jahr hineingestellt. Jedenfalls war und bleibt das Leben ein Gemisch aus Freude und Schmerz, die sich letztlich immer wieder die Waage halten:
 
                        Mit der Freude zieht der Schmerz
                        Traulich durch die Zeiten.
                        Bange Sorgen, frohe Feste
                        Wandeln sich zur Seiten.
                        […]
                        Und wo eine Träne fällt,
                        Blüht auch eine Rose.
                        Schön gemischt, noch eh' wir's bitten,
                        Ist für Thronen und für Hütten
                        Schmerz und Lust im Lose.
 
In jedem Jahr, sagt das Gedicht, sind Glück und Leid, Freude und Schmerzen letztlich zu gleichen Teilen beschieden. Wie das
ablaufende Jahr Höhen und Tiefen hatte, so wird es auch künftig sein. Vergangenheit und Zukunft werden. Janusköpfig gesehen und ergeben angenommen.
So klar wie der Gedankengang ist auch die poetische Sprache Hebels, die kein Geringerer als der Philosoph Martin Heidegger als die „einfachste, hellste, zugleich bezauberndste und besinnlichste Sprache, die je geschrieben wurde“, gerühmt hat. Ähnliches ließe sich auch wohl über die posthum erschienene Vertonung der Hebel-Verse für gemischten Chor durch Felix Mendelssohn Bartholdy sagen, die in Gedanken und Bitten der Schlußstrophen kulminiert:
 
                        Gebe denn der über uns
                        Wägt mit rechter Waage
                        Jedem Sinn für seine Freuden,
                        Jedem Mut für seine Leiden
                        In die neuen Tage
                        […]
                        Und zu stiller Herzensgüte
                        Hoffnung ins Geleite!
 
Damit ist angedeutet, daß es darauf ankommt, wie man Freude und Leid annimmt, um ihrem Sinn gerecht zu werden. Daß beide seit je zusammen erschienen sind und weiterhin erscheinen, scheint außer Zweifel zu stehen, denn darin zeigt es sich, daß die von Gott zugemessenen Gaben in jedem Fall „mit rechter Waage“ verteilt waren und sein werden.
 
Letztlich nimmt noch Theodor Fontane die Zentralgedanken Hebels in seinen Neujahrsversen „Ein neues Buch“ auf, die wohl dieselbe Gültigkeit beanspruchen dürfen:
 
Ein neues Buch, ein neues Jahr
 
Ein neues Buch, ein neues Jahr,
was werden die Tage bringen?
Wird's werden wie es immer war,
halb scheitern, halb gelingen?
 
Ich möchte leben, bis all dies Glühn
zurückließe einen leuchtenden Funken,
und nicht vergehn wie die Flamm' im Kamin
die eben erst versunken.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022
 
Redaktion: Frank Becker