„Heimweh“?

Drittes Konzert der 160. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal

von Johannes Vesper

Catarina Laske-Trier (Flöte), Manuela Randlinger-Bilz (Harfe), Carl St. Clair (Leitung) - Foto © Karl-Heinz Krauskopf

„Heimweh“?
 
Drittes Konzert der 160. Saison des Sinfonieorchesters Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Programm:
John Wineglass, geb. 1973: ›Alone Together‹ für Percussion, Harfe und Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791): Konzert für Flöte, Harfe und Orchester C-Dur KV 299 Johannes Brahms (1833-1897): Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
13. und 14. November 2022 in der Historischen Stadthalle Wuppertal
Besetzung: Catarina Laske-Trier (Flöte), Manuela Randlinger-Bilz (Harfe), Sinfonieorchester Wuppertal unter Carl St.Clair

 „Musik ist eine widerstandsfähige Sprache, die jedem Menschen zu jeder Zeit zu vermitteln ist“, sagte John Wineglass und will mit seiner Komposition „Alone-Together“ „neue Wege und Verbindungen aufzeigen, wie sie unsere Seele ersehnt“. Carl St. Clair begrüßte das Publikum: „Der Zustand der Welt spiegelt sich in dieser Partitur“ glaubt er. John Winehouse hat „Alone- Together“ allen gewidmet, die an Corona-verstorben sind, weltweit. Das Stück entstand mit Unterstützung des Dirigenten, der hier noch im letzten Jahr Mahlers 9. Sinfonie dirigiert hat. Der TV-Komponist Winehouse erhielt mehrfach den Emmy Award, den bedeutendsten Fernsehpreis der Unterhaltungsindustrie in den USA, und spielte, bevor er sich der Komposition zuwandte, wie seine ebenfalls berühmten Kollegen Bach, Mozart und Beethoven Bratsche. Vom kompositorischen Anspruch her überschreitet er weit bisherige musikalische Grenzen. Schon mit seinem „Requiem for Rice“ für die Arbeiter auf den Reisfeldern in Asien und Afrika wurde die politische Absicht, die er musikalisch verfolgen will, offenbar. Wie kann Musik, „tönend bewegte Form“, dabei helfen? Spezifisch menschliche Gefühle, die in einer furchtbaren Pandemie aufkommen in Musik, Töne, Klänge zu übersetzen, kann das gelingen? Allenfalls kann die Phantasie der Hörer, durch die Widmung angestoßen, eine Verbindung des Gehörten mit den Ideen des Komponisten herstellen. Was wird daraus nun musikalisch? Besetzt mit Schlagzeug, Harfe und Streichern eröffnen diese zusammen mit schwebendem Vibraphon das breitangelegte, harmonisch traditionelle, eingängige Stück. Unter Bratschenkantilenen über Orgelpunkt- Schlagrhythmus, mit eingeflochtenem Harfen-Arpeggio, kultiviertestem Schlußpianissimo endeten „Strange Pandemic Times“, bevor mit einem Harfensolo der liedartige 2. Teil („A Ray of Hope“) seinen Lauf nahm und zuletzt mit Glockenklängen endete. Ergreifende Filmmusik ohne Superbreitbildleinwand. Aber musikalische Bilder entstehen ja sowieso im Kopf.

 
Catarina Laske-Trier (Flöte), Manuela Randlinger-Bilz (Harfe) - Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Das Doppelkonzert des 22jährigen Wolfgang Amadeus Mozart lag 1778 in Paris voll im Trend Sinfonisch konzertant bieten Orchester und die mit- wie umeinander spielenden Soloinstrumente elegantes, heiteres Rokoko. Das Werk entstand als Auftragswerk für den Herzog de Guines und dessen Tochter, die vorzüglich Harfe spielte. Der Auftraggeber freute sich an dem Konzert, dem man nicht anhört, wie unwohl sich Mozart in Paris gefühlt hat, wo es „überall kotig und ein unbeschreiblicher Dreck ist“. Er beklagte bitter, wie grob und abscheulich hoffärtig die Pariser sind. Aber Paris ist nicht Wuppertal. Das Publikum hier war hingerissen von diesem Inbegriff des „Musikalisch-Schönen“ und der schwungvoll-beseelten, musikantischen Musikalität der Solistinnen, mit der sie schon auf ihrer CD (Duo d´Or) geglänzt haben. Aufmerksam und sensibel begleitete das Orchester unter der stets präsenten konzentrierten Stabführung des Maestros aus Kalifornien.
 
Nach der Pause gab es die vierte Sinfonie von Johannes Brahms, seine letzte. Brahms beantwortete Beethovens Frage nach der klassisch-sinfonischen Entwicklung „Durch Nacht zum Licht“, in dem er, auf J.S. Bach zurückgreifend, mit der riesenhaften Passacaglia des letzten Satzes die bis dato abgelaufene Musikgeschichte zusammenfaßt. Das Passacaglia-Thema stammt aus der Bach-Kantate  „Nach dir, Herr, verlanget mich“. Mit absteigenden Terzen und aufsteigenden Sexten beginnt so verhalten wie mächtig der 1. Satz. Überraschende Abbrüche, sorgfältig ausgespieltes Pianissimo, atmende Agogik: die packende, schwermütige Dramatik, wie sie unter dem spannungsreichen, aufmerksamen, temperamentvollen und inspirierenden Dirigat entstand, faszinierte das Publikum.
 Das Andante des 2. Satzes teilweise in alter Kirchentonart eröffnete ein beseeltes Hornsolo zusammen mit heller Flöte und dunklem Holzbläserchor über Pizzicato der Streicher, bevor melodiöse Themen breit ausgespielt werden. Das ruppige Allegro giocoso des 3. Satzes entspricht eher einem aufgewühlten, archaischem Durcheinander als einem Scherzo. Jedenfalls ist von Heiterkeit nichts zu spüren. Im letzten Satz findet sich teilweise thematisches Material des 1. Satzes wieder. In den 30 Variationen (Allegro energico e passionato) steigern sich Energie und Ernst, nur gelegentlich von anrührendem Flötensolo kontemplativ unterbrochen, und orchestrale unerbittliche Doppelschläge vollenden in der Schlußapotheose die tragische Zerstörung. Mit diesen ernsten Variationen beendet Brahms sein sinfonisches Werk, welches er doch mit den Haydn-Variationen vor der 1. Sinfonie begonnen hatte. Sie waren im 2. Abonnementskonzert vor wenigen Wochen zu hören. Großer Applaus, Bravi, Pfiffe, Blumen und stehende Ovationen. Warum dieses Konzert mit „Heimweh“ betitelt wurde, blieb unklar.