Fernwirkung

Eine Anmerkung zum Physiknobelpreis 2022


Ernst Peter Fischer
Fernwirkung
 
Eine Anmerkung zum Physiknobelpreis 2022
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Das entscheidende Wort lautet „Verschränkung“. Der Nobelpreis für Physik wird im Jahre 2022 drei Wissenschaftlern überreicht, denen der experimentelle Nachweis einer verschränkten Wirklichkeit im Innersten der Welt gelungen ist. Das heißt: Wer eines der kleinsten Teilchen, die dort tief im Atom anzufinden sind, beobachtet und die dazugehörigen Informationen registriert, kann sicher sein, daß ein zweites Teilchen, das einmal Kontakt mit dem vermessenen Partikel hatte, sofort und ohne jede zeitliche Verzögerung denselben Zustand annimmt und mit identischen Informationen zu erfassen ist. Als diese erstaunliche Möglichkeit einer verschränkten Welt, die nur als Ganzes zu verstehen ist, auch wenn Menschen mit ihren Worten von einzelnen Teilchen sprechen, zum ersten Mal als Charakteristikum der Realität erörtert wurde, verweigerte Albert Einstein seinen Kollegen die Gefolgschaft. Er lehnte solch eine Verschränkung unmißverständlich als „spukhafte Fernwirkung“ ab.
 
       Daß der große Mann sich dabei irrte, wie heute nachgewiesen werden kann, wird viele kleine Menschen erfreuen, die sich allerdings weniger über Einsteins Spuk amüsieren und mehr Gedanken über den Begriff der Fernwirkung machen sollten. „Fernwirkung“ – das klingt harmlos, so daß man das Problem leicht übersieht, das sich dabei auftut. Der erste Physiker, der von einer Fernwirkung sprach, war der Brite Isaac Newton, und er wollte erklären, wie es die Erde schafft, einen Apfel zu beeinflussen und das Obst von dem Ast eines Baums auf die Wiese stürzen zu lassen. Newton war sicher, daß dabei eine Kraft wirken mußte, und er bezeichnete sie als irdische Schwerkraft oder Gravitation. Er fand es allerdings absurd, daß sie über eine Entfernung wirken solle, und das auch noch instantan. Für Newton war die Gravitation auf der Erde genauso eine spukhafte Fernwirkung wie die Verschränkung in der Sphäre der Atome für Einstein, und so versteht man, warum er dieselbe Vokabel benutzte, wie der große Engländer zweihundert Jahre vor ihm – spukhafte Fernwirkung.
 
       Die Schwerkraft wurde im 19. Jahrhundert von einer Fernwirkung in eine Nahwirkung verwandelt, als Physiker die Idee eines Kraftfeldes entwickelten und zum Beispiel lernten, mit elektrischen und magnetischen Feldern umzugehen, etwa um die abstoßenden und anziehenden Wirkungen zwischen positiven und negativen Ladungen zu erfassen. Die Schwerkraft konnte in diesem Bild als Gravitationsfeld gedeutet werden, womit die Wissenschaft einen Schritt vollzog, der gerne unbeachtet bleibt oder nicht explizit benannt wird. Sie erklärte etwas Sichtbares, das Fallen, durch etwas Unsichtbares, das Feld, was man poetisch auch in die Worte fassen kann, daß sie etwas Bekanntes mit der Würde des Unbekannten verzierte. Novalis hat darin den ersten Schritt zur Romantisierung der Welt erkannt, wobei er auf einen zweiten wartete, bei dem etwas Gewohntes in etwas Geheimnisvolles verwandelt wurde. Genau dies war Einstein 1905 gelungen, als er der gewöhnlichen Erklärung für das Licht, die er als Welle deutete, die ungewöhnliche Einsicht an die Seite stellte, daß Sonnenstrahlen auch aus Partikeln bestehen können. Wenn aber etwas Welle und Teilchen zugleich ist, dann kann man nicht mehr sagen, was es tatsächlich ist, und so erweist sich das Licht als Geheimnis, was es so attraktiv für Menschen macht. Einstein hat versucht, ihm auf die Schliche zu kommen und zum Beispiel feststellen müssen oder festlegen können, daß sich nichts schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann. Diese triumphale Idee seiner Jugend schien ihm plötzlich im Alter gefährdet zu sein, als die Verschränkung erkennbar wurde und Fernwirkungen ohne Zeitverzug über weite Abstände produzierte.
 
       Kann man Einsteins Verschränkung wie Newtons Schwerkraft nicht als spukhafte Fernwirkung, sondern durch eine nachvollziehbare einsichtige Nahwirkung verstehen? Zwischen Erde und Apfel setzte die alte Physik ein Gravitationsfeld, und zwischen zwei verschränkten Teilchen kann sich die neue Physik ein Informationsfeld vorstellen. Und so wie Wirkungen des Schwerefelds sowohl in der Erde als auch im Apfel zu finden sind, stecken die Bits an Information zwischen und in den verschränkten Teilchen. Einige Physiker vermuten, daß sie aus Bits entstanden sind und Information und Wirklichkeit zwei Seiten einer materiellen Medaille zu erkennen geben, was einen grandiosen Vorschlag mit mystischen Wurzeln erlaubt. „Im Anfang war das Wort“, kann man in der Bibel lesen. Das Wort aber liefert Information, und wenn ein Anfang das ist, was vor den Sachen da ist, kann man sagen, in der Information finden Menschen man die Ursache (Ur-Sache) der Welt. Damit bekommen die Bits ihre eigene Fernwirkung. Die Information macht Menschen zu Mitgestaltern des Universums und seiner Geschichte, was in der Epoche der Romantik erstmals verstanden worden ist. Ihre Vertreter lehnten den Gedanken ab, es gebe eine bestimmte Struktur der Dinge, die man angeben könne, wie die Aufklärer noch dachten. Für Romantiker muß es – wie für Physiker und andere Wissenschaftler – immer Platz zum kreativen Handeln geben. Das Mögliche ist Menschen näher und wirklicher als das Reale oder Konkrete. Sie sind mit dem Potentiellen verschränkt. Das ist ihre Natur.
 
© 2022 Ernst Peter Fischer