Mehr an Bewußtmachung als jede anklagende Reportage

„Wie im echten Leben“ von Emmanuel Carrère

von Renate Wagner

Wie im echten Leben
Ouistreham - Frankreich 2021 

Regie: Emmanuel Carrère
Mit: Juliette Binoche, Hélène Lambert, Emily Madeleine, Léa Carne u.a.
 
Ein Arbeitsamt. Die Wartenden sind verzweifelt, einige randalieren, das Personal, spürbar mitleidlos, versucht bloß, alle zu beschwichtigen und abzuweisen. Eine reale Situation, wie sie sich täglich in wohl allen großen Städten der Welt abspielt. Die Verzweiflung, wie es weitergehen soll – ohne Arbeit, ohne Geld.
Eine bleiche Frau mittleren Alters mit müdem Gesicht paßt in die Schar der Arbeitssuchenden. Muß sich sagen lassen, daß sie sich besser „verkaufen“ muß, um eine Chance zu haben, Allerdings, Putzfrauen werden immer gesucht – die kann man nicht auslagern, die kann man nicht ersetzen, irgendjemand muß die Klos putzen, Mistkübel leeren, sauber machen… Die Frau, Marianne Winkler, sagt zu.
 
Es ist eine ganz große Rolle für Juliette Binoche, die ihr ganzes Können, ihre ganze Persönlichkeit entfalten kann. Wie man weiß, bekommt auch jemand wie sie (oder die Huppert) nicht immer hochwertige Aufgaben angeboten, und dann kann auch sie (man denke an „Die perfekte Ehefrau“) einen schwachen Film nicht retten. Aber diese Geschichte ist stark, vielleicht weil sie wirklich das „echte Leben“ abbildet. Marianne, die als Putzfrau bei einer der Fährschifflinien in Caen anheuert, ist nicht echt – sie ist eine Schriftstellerin auf Recherche. Sie spielt eine Rolle. Die französische Journalistin Florence Aubenas hat es getan und das Buch „Putze: Mein Leben im Dreck“ darüber geschrieben. Keine Interviews aus zweiter Hand, sondern selbst gelebtes Schicksal in der untersten Schicht der Gesellschaft. Emmanuel Carrère hat es verfilmt – menschlich wahr, ohne den Sozialporno auszureizen, den man heutzutage so oft hinauf gedrückt bekommt, damit man sich als Betrachter (meist im Theater) ganz, ganz schlecht fühlt…
Marianne und mit ihr wohl die meisten Kinobesucher geraten in eine Welt, von der man nichts weiß. Wo gnadenlos Leistung verlangt wird, wozu sich nur die Ärmsten der Armen verstehen, die keine andere Möglichkeit haben. Es gibt Mindestlohn für harte Arbeit, man rackert im Akkord, 230 Kabinen müssen pro Überfahrt geputzt werden, 4 Minuten pro Kabine… Marianne strahlt glaubhaft die Resignation derer aus, denen nichts anderes übrig bleibt – und versucht sich mit Gummihandschuhen, Kübeln, Reinigungsmitteln anzufreunden. Das ist nämlich gar nicht so einfach, wie man meinen sollte. Außerdem müssen die Frauen, die auf der Fähre putzen, den Passagieren gegenüber unterwürfig sein, höflich, wenn sie nicht ohnedies am besten unsichtbar sind, Denn eigentlich will man die Leute, die sich für einen die Hände schmutzig machen, ja gar nicht sehen.
 
Das ist kein süßliches Drehbuch, und doch berührt es, wie die jungen Frauen, die das schon lange, routiniert und illusionslos machen, sich der ungeschickten „Neuen“ annehmen, wie sie ihr Freundlichkeit, dann Zuneigung, schließlich Freundschaft entgegen bringen, sie auch in ihr kleines Privatleben einbeziehen.. Und da wendet sich auch die Geschichte, denn Marianne weiß, daß sie mit ihrer erfundenen Unterschicht-Existenz (eigentlich ist sie doch eine Luxus-Frau) das Vertrauen jener betrügt, die ihr so ehrlich entgegen kommen. Juliette Binoche läßt ihr schlechtes Gewissen immer wieder genial durchsickern.
Irgendwann muß die Rolle fallen, sie will es selbst sagen, die Entscheidung wird ihr brutal abgenommen, als sie mit den Putze-Freundinnen unterwegs ist, einen Bekannten trifft, der laut sagt: „Es heißt, Du rechercherierst gerade für ein Putzfrauen-Buch…“
Das Ende wird ein bißchen (aber nicht unglaubwürdig) dramatisch, ist tragisch, rutscht aber nicht in Sentimentalität ab. Die Welten trennen sich. Sie kann das Schicksal der Freundinnen, die sie gewonnen und deren Vertrauen sie enttäuscht hat, nicht ändern. Sie kann nur von ihnen erzählen.
Das tut auch der Film, und er leistet mehr an Bewußtmachung, als es jede anklagende Reportage könnte. Nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin.
 
 
Renate Wagner