Der Wein in Goethes Werk (4)

Ein önologischer Spaziergang

von Heinz Rölleke

© Jürgen Pankarz
Der Wein in Goethes Werk (4)
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Der Sänger“ erschien zuerst 1795 als Gedichteinlage im Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Der König hatte den Sänger eingelassen, um seinem Gesang zu lauschen.
         Der König, dem das Lied gefiel,
         Ließ ihm zum Lohne für sein Spiel
         Eine goldne Kette holen.
 
Der Sänger lehnt die Gabe ab, erbittet vielmehr einen „Trunk des besten Weins in reinem Glase“:
 
         Er setzt es an, er trank es aus:
         'O Trank voll süßer Labe!
         O! dreimal hochbeglücktes Haus,
         Wo das ist kleine Gabe!'
         […] danket Gott so warm, als ich
         Für diesen Trank euch danke.'
 
Der Sänger ist nicht nur bescheiden, sondern er bedeutet in seiner Ablehnung einer goldenen Belohnung, daß seine Kunst eigentlich unbezahlbar ist. Allerdings: Der beste Wein, in einem edlen Trinkgefäß gereicht, ist so kostbar wie ein kunstvolles Lied.
 
Goethe war diese Botschaft wichtig, denn als er 1827 das Lied für die Gedichtsammlung in der Ausgabe Letzter Hand seiner Werke aufnahm, veränderte er nur diese beschließenden Passsagen. Es heißt nun:
 
         'Laß mit den besten Becher Weins    
         In purem Golde reichen.
         […]
         O wohl dem hoch beglückten Haus,
         Wo das ist kleine Gabe!'
 
Aus dem „Trunk des besten Weins“ ist der „beste Becher Weins“ geworden (ein unübersehbarer Hinweise auf das Gedicht „Der Becher“) - und nun soll das Trinkgefäß auch nicht mehr ein beliebiges „reines Glas“ sein, sondern ein „Becher aus purem Gold“, der allein für ein so kostbares Getränk angemessen scheint.
 
Hohe Dichtkunst, vor allem in Form des Gesanges, ist gleichwertig dem edlen Wein, vor allem in der Form eines kostbaren Bechers.
 
In dem Gedicht an Frau von Stein sind klingen die göttlichen Symbole der Liebe, des Weines und der Kunstfertigkeit zusammen: Der Wein wird zur Dichtkunst, der Becher zum wunderbar gestalteten Leib der Geliebten. Die für diese höchsten Güter zuständigen antiken Gottheiten, der Schmiedegott „Vulcanus“ oder der Weingott Dionysos unter seinem Beinamen „Lyäus“ (der Gliederlösende, hier am Ende des Gedichts als der mit „Sorgfalt“ Weinkelternde imaginiert) und ganz besonders natürlich Amor sind wie selbstverständlich einbezogen und angesprochen:
 
         Einen wohlgeschnitzten vollen Becher
         Hielt ich drückend in den beiden Händen,
         Sog begierig süßen Wein vom Rande,
         Gram und Sorg’ auf einmal zu vertrinken.
 
         Amor trat herein und fand mich sitzen,
         Und er lächelte bescheidenweise,
         Als den Unverständigen bedauernd.
 
         „Freund, ich kenn’ ein schöneres Gefäße,
         Wert, die ganze Seele drein zu senken;
         Was gelobst du, wenn ich dir es gönne,
         Es mit anderm Nektar dir erfülle?“
 
         Oh, wie freundlich hat er Wort gehalten,
         Da er, Lida, dich mit sanfter Neigung
         Mir, dem lange Sehnenden, geeignet!
 
         Wenn ich deinen lieben Leib umfasse
         Und von deinen einzig treuen Lippen
         Langbewahrter Liebe Balsam koste,
         Selig sprech’ ich dann zu meinem Geiste:
        
Nein, ein solch Gefäß hat, außer Amorn,
         Nie ein Gott gebildet noch besessen!
         Solche Formen treibet nie Vulcanus
         Mit den sinnbegabten, feinen Hämmern!
         Auf belaubten Hügeln mag Lyäus
         Durch die ältsten, klügsten seiner Faunen
         Ausgesuchte Trauben keltern lassen,
         Selbst geheimnisvoller Gärung vorstehn:
         Solchen Trank verschafft ihm keine Sorgfalt.

- Finis -

© 2022 Heinz Rölleke

Die Illustration stellte dankenswerterweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.